Acht Brillen

Städte und Länder zu entdecken, in die es nicht viele Urlauber*innen hinzieht, mag ich sehr. Im Januar plante ich meinen Frühjahrsurlaub und schnell landete ich bei Sarajevo: viel und doch nichts gehört, Kriegsschauplatz des gerade mal 25 Jahre „alten“ Bosnienkrieges, das Jerusalem Europas und dann ist der Namen der Stadt auch noch ein Wortspiel.

Schnell waren Flüge und Unterkunft gebucht und dann ging es los.

Sarajevo schmeckt und riecht nach Toleranz, Freude, Schoko-Pistazien-Baklava, Tod, Lokum, Leid, bosnischen Kaffee, Tragik, Leben, Freude, Schönheit, Rosen, fettigem Börek, Moscheen, Kirchen, Synagogen, Bergen, Einschusslöchern, freundlichen Menschen. Es schärft den Blick – ich bin dankbarer für mein bequemes Leben geworden. Nirgends sonst in Europa treffen Orient und Okzident so offensichtlich aufeinander. Der Ruf des Muezzins der Moschee neben dem dm – eine spannende Erfahrung.

Im Vorfeld war ich überrascht, dass einige Bekannte schon mal dort waren. Aber auch kritisch-besorgte Stimmen zeigten sich. Die Erkenntnis auf dem Hinflug: nur eine Flugstunde von München entfernt, fand einer der schlimmsten Kriege des 20. Jh. hier statt, der Bosnienkrieg 1992-1995. 1.425 Tage lange wurde die Stadt damals von serbischen Truppen belagert und die Bewohner*innen wurden ständig beschossen. Es gab kein Wasser und keinen Strom. Was hätte das mit mir gemacht?

Alleine unterwegs erkunde ich die Stadt und stelle fest: Sarajevo ist eine Stadt, die mich fasziniert, die ein ständiger Widerspruch ist und es schafft, dass es mich gleichzeitig abstößt, anstrengt und begeistert, auch weil es steil hinaufgeht. Ein erholsamer Urlaub sieht anders aus, aber ich wurde reichlich entlohnt. Bewegt hat mich diese Stadt, Widersprüche hervorgelockt, gelehrt, vieles nebeneinander stehen lassen zu können, die tiefe Kraft der Mitmenschlichkeit offenbart. Und vieles mehr. Die Menschen sind sehr freundlich, ich habe mich wohlgefühlt und auch, dass ich die Reise alleine gemacht habe, hat mich die Stadt schnell vergessen lassen. Spannend war die Begegnung im Teehaus „Franz & Sophie“: wegen Platzmangels setze ich mich zu zwei netten Damen, die mir sympathisch sind. Jede liest. Und dann reden wir über Feminismus, Bosnien, Literatur und verabreden uns für den nächsten Tag. Eine Begegnung der Herzen.

Das erste Haus mit Einschusslöchern zu sehen, war sehr heftig. Danach war es fast normal. Diese Spuren, die zeigen, wie zerbrechlich die Dinge sind. Im historischen Museum hatte ich Beklemmungen, weil es an der ehemaligen Heckenschützenallee steht und aussieht, als ob der Krieg erst einen Tag her ist. Generell bin ich – abgesehen vom Personal – alleine in den Museen.

Das für mich mit eindrücklichste Erlebnis war der Besuch im jüdischen Museum. Während der Inquisition in Spanien flohen viel Jüdinnen und Juden in das ehemals osmanisch beherrschte Bosnien, wo sie größtenteils gut aufgenommen wurden. Wohlgemerkt: im muslimischen Bosnien. Das stellt was auf den Kopf. Sarajevo war schon immer ein Schmelztiegel der Ethnien und Religionen, so auch vor dem 2. Weltkrieg. Es war normal, dass jüdische Nachbar*innen neben muslimischen neben orthodoxen lebten. Man war füreinander da. Der zweite Weltkrieg und der Einmarsch der Nazis hat das auf eine Probe gestellt. Mit Tränen in den Augen lese ich Geschichten von den Leuten, die nun heute zu den „Gerechten unter den Völkern“ gehören (Anmerkung: dies ist ein Ehrentitel für nichtjüdische Menschen, die vor und während des 2. Weltkrieges jüdischen Menschen das Leben retteten). Weil sie ungeachtet ihrer Herkunft und Religion unter Einsatz ihres Lebens Freund*innen und Nachbar*innen versteckt haben, den Judenstern der Freundin beim Spaziergang unter dem Tschador versteckt, religiöse Vorschriften aufgehoben haben, damit Menschen Teil der Familie sein könnten. Muslime gehören nun zu den „Gerechten unter den Völkern“. Nur wenige Fußminuten entfernt ist die Bibliothek der größten Moschee in der Stadt, die einen Film darüber zeigt, wie im Bosnienkrieg diverse Menschen Bücher gerettet haben. Es waren wertvolle Kalligraphien und mehr. Sein Leben einsetzen für etwas Höheres, etwas, an das man glaubt. Etwas riskieren dafür. Bin ich bereit dafür?

Ständig habe ich mich gefragt, was ich getan hätte. Wieviel bin ich bereit zu geben, vielleicht auch von dem abzugeben, was ich für meine Weltsicht halte, damit andere gerettet werden. Das ist in Berlin schon eine Zerreißprobe. Die*der andere ist Mitmensch, ungeachtet der Weltsicht. Das ist oft schwer auszuhalten. Umgeben in meiner Blase bin ich dem zu wenig ausgesetzt.

Und dann die Erinnerung an den furchtbaren Bürgerkrieg 1992-1995 – sie sind nicht zu übersehen. Renoviert werden die Gotteshäuser, aber nicht die Wohnhäuser. Ist das nicht viel wichtiger? Der Leiter einer Tour vor Ort erinnerte daran, dass nicht alle Serben Kriegstreiber und schlimm waren. Die, die geblieben sind, haben so gut es ging geholfen und ausgeharrt. Ich merke, wie schnell und leicht es ist zu hassen (DIE Serben – ich sehe das Leid, was durch die Truppen verursacht wurde). Die Welt schaute während der Massaker an den Bosniaken (muslimische Bosnier*innen) 1992-1995 weg. Ich tue das auch immer wieder.

Sarajevo erinnert mich als Mensch an meine Emotionen, die oft so scheinbar widersprüchlich sind. Genau darin von Gott erkannt und geliebt zu sein – daran möchte ich mich auch erinnern.

Und so bleibt eine Stadt, die mir unvergessen bleiben wird, weil sie viel mit mir gemacht hat.