Acht Brillen

Elternabend in der Schule. 

Schon der Gedanke an diese Veranstaltung lässt mich genervt die Augen rollen.

Zwei Stunden mit anderen Eltern auf viel zu kleinen Stühlen.

Zwei Stunden mit Menschen, mit denen mich eigentlich nur die Tatsache verbindet, dass unsere Kinder zufällig in derselben Klasse gelandet sind.

Zwei Stunden Fragen und Meinungen, die mich nicht wirklich interessieren.

Zwei Stunden kein Entkommen.
Mitgefangen, mitgehangen.

Ich bin umzingelt von überengagierten Helikoptereltern, die meinen alles besser zu wissen, immer das letzte Wort haben müssen und sich gefühlt stundelang in WhatsApp-Gruppen darüber austauschen, was, wer, wie, wo vergessen hat und wann der nächste Muffin für den bevorstehenden Kuchenbasar gebacken werden muss.

(Ich bin natürlich nie so. Nie Helikopter, nie überengagiert, nie weiß ich alles besser und an meine eigenen Papageienkuchenmuffins mit Zuckerguss und diversen Glitzer-, Herzchen-, Biostreuseln habe ich auch nie den Anspruch, dass sie die allerschönsten auf dem Basar sind.)

Wir sitzen auf den Ministühlen.
Es ist heiß.
Mir ist langweilig.
Ich versuche, mich zu konzentrieren. Will ja schließlich nicht den Moment verpassen, an dem dann eventuell doch noch was Wichtiges kommt.

Und dann kommt er – der Moment.

Erst schnall ich es gar nicht.

Einige Eltern fangen an, sich über die von der Lehrerin eingeteilten Gruppenarbeiten zu beschweren. (Mein Gehirn ist noch in Neutral.)

Wer entscheidet denn, wer hier mit wem zusammenarbeitet? Warum Gruppenarbeit überhaupt?
Es ist zu viel Arbeit.
Zu viel zu koordinieren.
Zu zeitintensiv.
Zu anstrengend.

Die Stimmen werden lauter. Die Gemüter erhitzter.

Frust liegt in der Luft.

‚Gute‘ und ‚schlechte‘ Schüler*innen, ‚starke‘ und ‚schwache‘ Kinder in einer Gruppe – das gefällt den Eltern nicht. Da prallen Welten aufeinander. Da ist die Sorge um das eigene Kind groß.

Wird es mit seiner Leistung gesehen?
Wird es für seinen Einsatz auch ja richtig benotet?

Aus irgendeinem Grund ist das der Moment, an dem mein Arm entscheidet, sich zu melden.

Ich höre mich, wie ich sage:
‚Aber das ist doch das richtige Leben. Mit Menschen zusammen zu arbeiten, die anders sind als man selbst. Mit anderen Stärken und Schwächen. Anderen Ansprüchen. Anderen Motivationen.‘

Ich rede noch ein wenig weiter darüber, dass wir als Eltern unsere Kinder darin unterstützen könnten mit Enttäuschungen, Frustration und Konflikten umzugehen, merke aber schnell, dass ich nun meinen ganz eigenen Konflikt an der Backe habe.

Ich werde darüber belehrt, dass das so ja nicht ganz stimme. Schließlich wäre es ja auch das richtige Leben, in dem die ‚Schwachen‘ sich nicht hinter den ‚Starken‘ verstecken oder sich einfach an sie ‚ranhängen‘ könnten, um von deren Leistungen zu profitieren.

Kurz überlege ich, ob ich sage, dass es doch eigentlich clever ist, wenn man es schafft, andere für sich arbeiten zu lassen und trotzdem eine gute Note bekommt … entscheide mich dann aber doch dagegen.

Der Elternabend endet. Die verstimmten Eltern versammeln sich alle vor der Schule, um weiter zu diskutieren – ohne mich natürlich.

Ich gehe an ihnen vorbei, verabschiede mich höflich, steige in mein Auto und denke über ‚starke‘ und ‚schwache‘, ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Schüler*innen nach. Über Aufkleber und Schubladen, in die wir unsere Kinder, uns selbst und letztlich unsere Gesellschaft stecken.

Warum sind wir uns eigentlich so oft selbst die Nächsten?

Warum die große Angst, nicht gesehen zu werden?

Warum ist es wichtiger, dass das eigene Kind eine gute Note für seine Leistung bekommt, statt Kompetenzen zu entwickeln, die es ihm ermöglichen, offen über Erwartungshaltungen zu sprechen? Warum wollen Eltern sich nicht gemeinsam mit ihren Kindern mal kritisch über Perfektionismus auseinander setzen? Und warum scheint es überhaupt kein Interesse daran zu geben, sich in Großzügigkeit und Empathie zu üben?

Irgendwie kann ich die Angst der anderen ja auch verstehen.
Schließlich will auch ich nur das Beste für meine Tochter.
Will, dass sie Spaß am Lernen hat, gesehen wird, gerecht benotet wird. 

Und wenn ich ehrlich bin, dann freue ich mich auch, dass sie zu den ‚Guten‘ zählt.

Ich denke an Gott und wie er die Kinder sieht.
Daran, dass er keine Einteilung in ‚starke‘ und ‚schwache ‘ Kinder, ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Schüler*innen hat und, dass er in der Bibel sich immer wieder die aussucht, die es nicht so richtig auf der Kette haben.
Ich denke an Jesus und höre seine Worte: Nicht die Starken brauchen einen Arzt. (Mt. 9,12)

 

Die Soziologin Brené Brown schreibt

Wenn wir nicht lernen aus vollem Herzen zu empfangen, dann werden wir auch niemals aus vollem Herzen wirklich geben. Wenn wir es verurteilen, wenn jemand Hilfe braucht, dann werden wir es auch unbewusst verurteilen, wenn wir anderen helfen.

Hilfe brauchen. Hilfe bekommen. Hilfe annehmen. Anderen helfen. Alles greift ineinander.
Klar, es ist immer angenehmer, in der vermeintlich ‚stärkeren‘ Position zu sein – zu helfen oder keine Hilfe zu benötigen.

Doch was würde eigentlich passieren, wenn wir lernen würden, aus vollem Herzen zu empfangen? Hilfe anzunehmen und uns nicht schwach, unterlegen, inkompetent, unzulänglich zu fühlen?

Was wäre, wenn wir uns stattdessen der Gegenwart Gottes in unserem Leben bewusst würden?
Wie er sich uns aussucht, zu uns stellt und dient?

Was wäre, wenn wir Empathie, Großzügigkeit und Verletzlichkeit lernen – mit anderen und mit uns selbst?

Ist alles gar nicht so einfach.

Ich habe mir jedenfalls ein paar Dinge vorgenommen:

1. Beim nächsten Elternabend nicht schon vorher mit den Augen zu rollen. 

2. Meine Tochter bei der nächsten Gruppenarbeit darin zu bestärken, offen und ehrlich mit den anderen Kindern in ihrer Gruppe über Erwartungen zu sprechen. 

Und

3. Beim nächsten Mal ganz bewusst darauf zu achten, Gott in der Person wahrzunehmen die mir hilft, wenn ich mal wieder nicht alles so richtig auf der Kette habe.