Ich sitze in Vancouver im Stadion und schaue mir ein Fußballspiel an. Ein Stück neben mir sitzt irgendein wichtiges Mitglied der Provinzregierung von British Columbia. Direkt vor mir ein paar Männer mit riesigen Turbanen und hinter mir eine chinesische Familie, deren Kinder ordentlich Radau machen. Der Zuschauer direkt am Gang sieht so lausig aus, dass ich keine Ahnung habe, wie er das Ticket bezahlt hat. Während des Spiels freundet er sich mit ein paar Russisch-sprechenden Männern an und sie kommentieren lautstark die Leistung unserer Heimmannschaft.
In der Halbzeitpause erscheint auf den Großbildschirmen plötzlich ein Werbespot für Toleranz, Respekt, Gleichberechtigung und ein gutes Miteinander. „Komisch“, denke ich, „völlig falsche Zielgruppe!“ Wenn man jemandem so einen Spot NICHT zeigen muss, dann den Menschen in der Multi-kulti-Metropole Vancouver. Hier wird das alles doch schon ziemlich gut gelebt!?
Oder vielleicht gerade denen? Gerade sie müssen immer wieder hören, wie wichtig Toleranz und Respekt sind. Toleranz und Respekt für Menschen, die anders sind als man selbst. Denn wenn die Kanadier diesen Punkt aus dem Blick verlieren, fliegt ihre Nation auseinander.
Die gründet nämlich nicht auf einer gemeinsamen kulturellen Vergangenheit. Bis auf die First Nations gibt es keine „Herkunftskanadier“. Es gibt Kanadier englischer, französischer, chinesischer, russischer, deutscher, ukrainischer, philippinischer, italienischer oder indischer Abstammung (und noch viele mehr). Kanadier haben auch keine gemeinsame Religion. Kanadier sind Moslems, Hindus, Christen, Juden (...) oder Atheisten. Alle haben die Freiheit sich auszusuchen, zu welchem Gott sie beten. Oder eben auch nicht.
Kanadier eint also weder gemeinsame Kultur, noch Religion oder sozialer Status. Was sie verbindet, ist die Überzeugung, dass jede*r seine Ansicht haben und vertreten darf. Niemand setzt seine eigenen Traditionen und Weltanschauungen absolut. Zumindest nicht so, dass er andere in ihren einschränkt.
Diese Nation, die keine gemeinsame ethnische oder religiöse Herkunft hat, ist darauf angewiesen, dass das Miteinander völlig verschiedener Gruppen gut funktioniert. Deshalb dürfen sie nicht aufhören, sich immer wieder daran zu erinnern und dafür zu werben: Toleranz, Gleichberechtigung und Respekt geht alle an! Jede und jeden hier im bunt durchgewürfelten Stadion.
ES GEHT ALLE AN!
Ein gutes Miteinander kann nicht eine Gruppe für alle anderen „machen“. Diese Einsicht fasziniert mich!
Im deutschen Kontext empfinde ich Diskussionen rund um Themen wie Toleranz, Gleichberechtigung und das gemeinsame Miteinander häufig sehr einseitig. Der „stärkeren“ Gruppe wird mit einer Anspruchshaltung entgegengetreten. In der Erwartung, dass sie das Leben für die „schwächeren“ Gruppen besser zu machen hat. Um mal zwei ganz plakative Beispiele zu nennen: Liebe Herkunftsdeutsche mit Arbeitsplatz und Zweitwagen, kümmert euch besser um die Geflüchteten! Liebe Männer mit hoher formaler Bildung und ohne Behinderung, fördert mal die Frauen stärker!
Beides sind erstmal keine schlechten Ideen. Denn darauf hinzuweisen, wo es Menschen gibt, die sich gerne beteiligen möchten, ihnen aber keinen Raum dafür geboten wird, ist ein wichtiger Punkt. Manchmal habe ich aber den Eindruck, dass wir uns auf diesem Stand ganz gemütlich eingerichtet haben. Nur leider reicht das allein nicht. Ein buntes und vielfältiges Miteinander kann nämlich nicht eine Gruppe für alle anderen „machen“. Nicht einmal die „stärkste“ Gruppe.
In letzter Konsequenz funktioniert ein vielfältiges Miteinander auf Augenhöhe nur, wenn alle Gruppen positiv und selbstbewusst mitgestalten. Die großen und die kleinen. Prinzipielles Ausruhen auf dem Status Quo auf der einen Seite bringt uns genauso wenig voran wie selbstmitleidiges Gemecker auf der anderen Seite. Die „stärkeren“ Gruppen müssen sensibel dafür sein, wo sie anderen Gruppen Platz zum Mitgestalten und Verantwortung-Übernehmen einräumen können. Und gleichzeitig müssen die „schwächeren“ Gruppen, diese Gelegenheiten ergreifen und sich mit ihren Stärken einbringen, sodass alle davon bereichert werden.
Gute Gemeinschaft können wir nur gemeinsam erreichen. Ein vielfältiges Miteinander entsteht nicht dadurch, dass ständig betont wird, auf welcher „Seite“ man selbst steht, wofür man kämpft und was man fordert, sondern indem man dort, wo sich die Gelegenheit bietet, engagiert und offen ist für „seinen Nächsten“ und sich daran freuen kann, wenn die Stärken der anderen zur Geltung kommen.
Ich finde diesen Gedanken kurz und knapp in Philipper 2,3-4 wieder:
Weder Eigennutz noch Streben nach Ehre sollen euer Handeln bestimmen. Im Gegenteil: Seid bescheiden und achtet den anderen mehr als euch selbst. Denkt nicht an euren eigenen Vorteil. Jeder von euch soll das Wohl des anderen im Auge haben.*
Ich glaube, dass es uns einen großen Schritt weiterbringt, wenn wir alle überlegen, wo sich Gelegenheiten bieten, auf das Wohl anderer bedacht zu sein, anstatt uns so intensiv damit zu beschäftigen, von „den Anderen“ mehr Wohl für uns selbst einzufordern.
* Die Bibelstellen ist der Übersetzung Hoffnung für alle ® entnommen, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis.