Acht Brillen

Gebet am Abend

Lieber Gott,

es ist Abend geworden. Ich sitze neben dem Bett von meinem Sohn. Er versucht einzuschlafen. Die CD mit Kinderliedern läuft leise. Der Text gefällt mir und ich bete ihn gerne mit:

Müde bin ich, geh zur Ruh,
schließe beide Äuglein zu.
Vater, lass die Augen dein
über meinem Bette sein.

Hab ich Unrecht heut getan,
sieh es, lieber Gott, nicht an,
deine Gnad und Jesu Blut
macht ja allen Schaden gut.

Ähm, Gott tut mir leid, aber ich muss dieses Gebet einmal unterbrechen. Vielleicht verstehe ich diese Strophe nicht so, wie Luise Hensel es Anfang des 19. Jahrhundert gemeint hat. Aber die Worte „Habe ich Unrecht heut getan, sieh es, lieber Gott nicht an“, klingen für mich nach: Schau lieber nicht genau hin, was ich heute an schlechten Dingen getan habe. Meine Fehler, die verstecke ich vor dir. Du könntest mich ja dafür bestrafen, wenn ich andere verletzt habe…

Doch dieses Gottesbild ist mir fremd. Ich bin nicht so geprägt, dass du Fehler bestrafst. Ich habe dich als liebevollen und fürsorglichen Vater kennengelernt. Du bist Liebe pur. Du kennst mich durch und durch. Meine Stärken, aber besonders eben auch meine Schwächen und meine Fehler. Wie könnte ich dann diese vor dir verstecken? Kann ich überhaupt etwas vor dir, dem Allwissenden, verheimlichen?

Im Gegenteil! Eigentlich will ich sogar, dass du dir meine Untaten und Fehler anguckst. Ganz gezielt. Nicht, um die eventuell gerechtfertigte Strafe zu bekommen. Sondern, weil ich dich an meiner Seite brauche, um mit meinen Unvollkommenheiten und Sünden fertig zu werden. Deine Hilfe gibt mir gerade im Schwachen Kraft. Und so glaube ich, dass du auch aus meinen Schwächen und Fehlern etwas Gutes wachsen lassen kannst. Zumindest dann, wenn ich sie mir und dir bewusstmache und daraus lerne.

Also lieber Gott, lass uns gemeinsam einen Blick drauf werfen. Bitte schau dir genau an, was ich heute an Unrecht getan habe!! Und zeige mir, wo ich um Vergebung bitten muss und wie ich mich in Zukunft anders verhalten kann.

Vielleicht geht es in dem Gebet ursprünglich auch gar nicht um das „Wegschauen“, sondern das „Anrechnen“ ist gemeint. Also, dass du mir meine Taten gar nicht so hochhängst. Vielleicht auch eher das Gute meines Tagwerks im Blick behältst und das Schlechte nicht überbewertest?

Es heißt ja auch weiter, dass „deine Gnad und Jesu Blut ja allen Schaden wieder gut machen“. Das klingt so leicht und versöhnlich. Und ist doch so schwer zu verstehen. Besonders auch für Kinderohren. Auch für mich ist die Tiefe der Bedeutung von Gnade und Opfertod oft nicht bewusst. Ich mag gar nicht beurteilen, wie weit deine Gnade reicht und was das Leiden Jesu konkret für dich bedeutet.

So hoffe ich einfach darauf, dass du auch in der Frage nach Vergebung mit mir unterwegs bist.

Und während meine Gedanken weiter kreisen, geht das Gebet längst weiter und ich steige wieder voll mit ein und bete für die Menschen um mich rum:

Alle, die mir sind verwandt,
Gott, lass ruhn in deiner Hand,
alle Menschen, groß und klein,
sollen dir befohlen sein.

Kranken Herzen sende Ruh,
nasse Augen schließe zu.
Lass den Mond am Himmel stehn
und die stille Welt besehn.

AMEN.

Morgen Abend höre ich vielleicht das Lied wieder und bete an einem anderen Vers weiter.