Acht Brillen

Geistliches Wachstum – mir läuft ein kalter Schauer den Rücken runter, wenn ich diese Worte höre. 

Eigentlich ist geistliches Wachstum ja etwas Gutes. Wollen wir doch alle, oder? Geistlich wachsen. Wenn unser Glaube nur so groß sein muss wie ein Senfkorn, um einen Berg zu versetzen, was sollte uns dann noch aufhalten, wenn wir mit dem geistlich Wachsen erstmal so richtig loslegen?! 

Aber in diesem Punkt sind wir voll auf den gesellschaftlichen Trend reingefallen, der uns permanent das Gefühl gibt, dass alles um jeden Preis immer mehr und immer besser werden muss! Größer werden, Effizienz steigern, Synergien nutzen und die neusten Entwicklungen bloß nicht verschlafen! Wer bremst verliert und wer aufhört zu wachsen, ist so gut wie erledigt!

Alles ist ständig im Wandel und wie genau das mit dem geistlich Wachsen funktioniert, ändert sich laufend. Zum Glück hat jedes Jahr jemand anderes die neuen „sieben Schritte zum geistlichen Wachstum“ gefunden und natürlich auch gleich das Buch dazu geschrieben, das man unbedingt lesen muss, wenn man wirklich geistlich wachsen will – am besten mit der ganzen Kleingruppe.

Wer nicht gern liest, dem wird auch geholfen: Man belegt einfach einen Geistlich-wachsen-Kurs in seiner Gemeinde. Meistens heißt der nicht so, aber spätestens im Untertitel wird klar, worum es geht. Und wer es richtig ernst meint, nimmt unbedingt auch an so einem Mentoringprogramm teil, bei dem ein geistlich Gewachsenerer einem erklärt, wie man in der eigenen Lebenssituation am besten geistlich wächst!

Oh Mann, denke ich mir, so viele „Programme“. Ich will doch nur glauben dürfen! Ohne Programm und vor allem, ohne dass mir ständig suggeriert wird, mein Glaube wäre nicht groß genug und müsse dringend mehr wachsen.

Bibelstellen zu dem Thema gibt es viele. Eine, die ich mag, steht in Lukas 17, 5-6:

Und die Apostel sprachen zu dem Herrn: Stärke uns den Glauben! Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorsam sein.*

Krass. Jesus meint, ein Glaube in Senfkorngröße würde schon reichen, um Bäume dazu zu kriegen, ins Meer zu wandern! Da kann ich schon verstehen, dass man sich gleich fragt, was wir erst bewirken können, wenn wir es schaffen, unseren Glauben noch ein bisschen größer als das Senfkorn zu bekommen! BÄM – schon wieder voll reingefallen auf die populäre Denke von „größer ist besser“.

Wenn ich ein zweites Mal hinschaue, bemerke ich: Die Jünger bitten Jesus um Stärkung des Glaubens, was mir wie eine gut nachvollziehbare Bitte erscheint ... Und dann geht es weiter mit einem dicken „Aber“. Der Herr aber sprach. Das „aber“ deutet an, dass er nicht auf den Wunsch eingeht, sondern im folgenden Satz etwas Gegenteiliges sagt und der Bitte nicht entspricht.

Ein Senfkorn ist sehr offensichtlich klein. Winzig sogar. Wenn es noch kleiner wäre, wäre es gar nicht mehr da. (Zumindest in der Symbolik des Textes.) Und trotzdem verpflanzt sich der Baum ins Meer!

Glaube, so scheint es mir zumindest, ist für Jesus eine dichotome Variable. Das bedeutet, er unterscheidet lediglich zwischen zwei Ausprägungen. Nämlich zwischen „es ist Glaube da“ und „es ist kein Glaube da.“ Und wenn welcher da ist, differenziert er nicht weiter zwischen größer und kleiner und denkt erst recht nicht „größer ist besser“.

Wo Glaube ist, muss er nicht wachsen!

Ich frage mich, ob im Glauben das „zu groß“ viel problematischer ist als das „zu klein“? Haben wir im Geistlichen-Wachstums-Hype unseren Glauben möglicherweise versehentlich auf die Größe eines Gymnastikballs aufgeblasen, obwohl seine Substanz nicht mal das Volumen eines Senfkorns füllen konnte? Dann wird das Ganze schnell eine ziemlich hohle Angelegenheit!

  • Vielleicht liegt unsere wahre Herausforderung darin, sich mal zu trauen, den Stöpsel zu ziehen, die Luft rauszulassen und den Glauben vertrauensvoll auf die Größe eines Senfkorns schrumpfen zu lassen und zu sehen, wie viel Substanz wirklich da ist? 

  • Vielleicht geht es hin und wieder darum, voller Freude zu feiern, dass man sich einen „kleinen“ Glauben bewahren konnte. Trotz eines Alltags, in dem zwischen Arbeit, Angst, Problemen und einer guten Portion eigener Ignoranz das Gottvertrauen an den meisten Tagen nicht mal bis zum Amen reicht?

  • Und ganz vielleicht liegt das Geheimnis darin, dass es gar nicht um die Größe meines Glaubens geht. Es ist nämlich nicht die Größe meines Glaubens, die Bäume verpflanzt und Berge versetzt, sondern die Größe dessen, dem ich glaube. Und darum darf ich auch mit meinem winzigen Glauben Großes glauben. 

 

 

* Lutherbibel 2017, © 2016, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart