Ich nehme euch kurz mit nach Brüssel. Es ist einige Wochen her, aber was ich dort erlebt habe, fühlt sich noch sehr frisch an. Ich bin unterwegs zur "Youth and Children Workers Conference" der Europäisch Baptistischen Föderation. Der Wind bläst ganz schön, als ich aus dem Bahnhof auf die Straße trete und es regnet. Mir schmerzt der kalte Wind im Gesicht. Ich ziehe die Kapuze auf und schnüre sie fest. Es wird schon gehen. Nur fünf Minuten Fußweg, dann werde ich das Hotel erreichen. Mit gesenktem Blick gehe ich die Straße entlang und ziehe meinen Rollkoffer etwas lustlos hinter mir her. Der Regen stört wirklich. Und dann höre ich es. Ein kleines Kind weint. Ich hebe meinen Kopf und sehe am Straßenrand eine in Decken eingewickelte Familie sitzen. Die Frau hält ein sehr, sehr junges Kind auf dem Arm. Keine zwei Jahre alt.
Was soll ich tun? Innerlich erstarre ich, merke aber wie meine Füße weitergehen. Ich fühle mich schlecht, völlig hilflos und ohnmächtig zugleich. Weil ich mich hier fremd fühle? Unsicher gehe ich an der Familie vorbei und lasse sie auf dem Boden kauernd zurück. Die Ungerechtigkeit dieser Welt schreit mich in der Stimme des kleinen Babys an, und ich fühle diese Gerechtigkeitsohnmacht in mir.
Es bleibt nicht die einzige Erfahrung in diesen Tagen. Noch nie ist es mir vorher so massiv aufgefallen wie in Brüssel. Natürlich gibt es Obdachlosigkeit überall und je größer die Stadt, desto sichtbarer wird sie. Aber hier? Mitten auf der Shoppingmeile richten sich ab 22:00Uhr obdachlose Frauen und Männer und zum Teil ganze Familien mit ihren Habseligkeiten ein. Kartons sind ihre Wände. Ladeneingänge ihre Schlafzimmer. Dünne Decken ihre Heizungssysteme. Plastiktüten ihre Speisekammern. Und ich? Ich gehe jeden Abend zwischen all diesen Menschen hindurch und weiß, dass ich einige Minuten später in einem warmen Hotelzimmer sein werde. Das ist doch nicht gerecht. Aber ich habe keine Ahnung wie ich es ändern kann. Sie drückt mir auf die Brust und lässt mich schwer die kalte Luft atmen, diese Gerechtigkeitsohnmacht. Ja, ich lege in diesen Tagen auch zwei-, dreimal etwas Geld in die zerknickten Pappbecher, die mir entgegengehalten werden. Und ja, auch sonst fallen mir Situationen ein, in denen ich nicht ohnmächtig danebengestanden habe, sondern aktiv war. Ich tue natürlich auch etwas gegen Ungerechtigkeit und für Nachhaltigkeit.
Aber dennoch, hier in Brüssel trifft sie mich wie ein harter Schlag. Diese Ohnmacht, die sich jedenfalls bei mir einstellt, wenn ich dem Leid der Welt so direkt ins Gesicht schaue. In dieser Überforderung atme ich dreimal richtig tief durch und gehe weiter. Wer weiß auch, was wirklich dahinter steht. Vielleicht sogar die grausame Wirklichkeit einer Bettelmafia?
Quatsch, Udo! Obdachlosigkeit sucht sich niemand freiwillig dauerhaft aus. Klar ist auch, dass die meisten durch missliche Umstände hineingerutscht sind. Die Rutsche hat nur eine Richtung. Die Kraft von der Straße wieder in ein „normales“ Leben können die wenigsten von sich aus aufbringen.
Brüssel hat in mir etwas zum Klingen gebracht, was mich schon länger bewegt. Wie lange will ich noch akzeptieren, dass es unnötige, strukturelle Armut gibt? Es ist einfach nicht hinnehmbar, dass ich bei all dem Überfluss Ungerechtigkeit mit zementiere.
Neulich hat jemand in einem Vortrag behauptet, dass es in der Mathematik ganz einfach ist. Denn in der Mathematik folgt alles Axiomen und der puren Logik. Vier mal vier ergibt nun einmal 16. Theoretisch schon, aber praktisch zweifle ich an dieser Behauptung. Denn im wahren Leben kommt es dann darauf an, wie groß etwas ist. Wenn ich vier sehr große Äpfel habe, ist das mehr Apfel, als vier sehr kleine Äpfel, die vielleicht jemand anderes hat. Es ist mehr als Philosophie für mich. Es ist die Wirklichkeit in der wir leben. Die Verteilung der Mittel ist ungerecht. Kein Leben gleich einem anderen. Ich verbrauche mit meiner Familie unendlich viel mehr Ressourcen als eine Familie, die in Brüssel im Januar bei -5 Grad Celsius auf der Shoppingmeile auf drei Quadratmeter ums Überleben kämpft.
Wir leben in einer Welt, die unter Gerechtigkeitsohnmacht leidet. Die Gerechtigkeit hat keine Macht, wenn wir es einfach hinnehmen, dass das Leben zweier Menschen ganz unterschiedlich aussehen kann. Und dabei muss ich noch nicht einmal über den europäischen Kontinent hinaushucken.
Gerechtigkeit braucht Macht und ich muss mich neu in die Verantwortung nehmen lassen, etwas zu verändern. Ein Mensch, der bereit ist, zu handeln. Wenn das nicht passiert, wird sich die Gerechtigkeitsohnmacht in mir immer weiter ausbreiten. Ich würde sehr gerne aus der Gerechtigkeitsohnmacht komplett aussteigen. Im Moment tue ich das mit sehr kleinen Schritten und kleinen Taten, aber ich merke ich, dass es mir immer noch wie eine hohle Phrase vorkommt. Der Weg ist also noch lang und vielleicht fallen mir noch mehr und bessere Lösungen ein. Mit meiner Familie möchte ich besprechen, ob wir unserer Stadt anbieten, dass jemand bei uns kurzfristig unterkommen kann, wenn eine Bleibe gesucht wird. Ein kleiner Schritt, aber er fühlt sich kräftig an.