Acht Brillen

Neulich stand Simon Werner in meinem Büro und fragte mich, ob ich schon das neue Lied von Avril Lavigne kennen würde „Head above water“. Ich kannte es noch nicht. Sk8ter boi und Complicated aus dem Jahr 2002 schossen mir sofort durch den Kopf, aber Head above water sagte mir nichts. Sein Hinweis, dass es sich echt lohnen würde, war Aufforderung genug, den Song bei einem bekannten online Streaming-Dienst zu suchen und anzuhören. Die Pianosequenz und die glasklare Stimme überzeugten mich sofort. Das ist wirklich ein großartiger Song. 

„Ein Klagelied“, kommentierte Simon zu den ersten Tönen.

Ja, das passt. Die Stimmung im Lied verrät es einem irgendwie von Beginn an und doch zunächst so ungewohnt, fast wie verkleidet in diesen modernen Tönen. Zwischen Tür und Angel ist nicht genug Zeit, um sich dem Song in seiner Tiefe zu widmen, merke ich, aber nach der Arbeit will ich ihn noch einmal aufmerksam anhören.

Seitdem lässt mich der Song eigentlich nicht mehr so richtig los. Es gibt immer wieder Phasen, wo mich Lieder länger, manchmal über Monate, begleiten. Ich glaube dieses hat die Qualität, sehr lange unter den Top Five meiner Lieblingslieder zu bleiben.

Jetzt ist es Zeit den Song erst einmal zu hören.

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Avril Lavigne ist 34 Jahre alt und seit 2002 auf der musikalischen Weltbühne unterwegs. Die letzten fünf Jahre ist es aber still um sie geworden. Es gab um sie als Künstlerin regelrechte Verschwörungstheorien. Von, ein Double hätte ihre Live-Auftritte übernommen, bis dahin, dass sie in Wirklichkeit schon verstorben sei. Mit „Head above water“ öffnet sie sich nach langer Pause ihrem Publikum und gibt Einblick in ihren Überlebenskampf, der letzten Jahre. 

Durch einen Zeckenbiss hat sie sich 2014 mit Lyme-Borreliose infiziert. Jahre haben sie diese Erreger außer Gefecht gesetzt. Eines Abends dachte sie, dass sie sterben müsse. „Ich akzeptierte das“, sagt sie später in einem Interview. „Meine Mutter lag bei mir im Bett, sie hielt mich. Ich dachte, ich ertrinke. Ich betete dann zu Gott – bitte hilf mir, den Kopf über Wasser zu halten. In diesem Moment formte sich auch der Song. Die Lyrics flossen in mich, es war eine spirituelle Erfahrung.“ (rollingstone.de) 

Die ganze Struktur der Melodie unterstützt ihren Überlebenskampf. Das Piano am Anfang springt zwischen den höheren und tieferen Tönen. Hin und hergerissen zwischen den Momenten, zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Leben und Tod, zwischen Wellenkamm und Wellental. Wer genau hinhört wird feststellen, dass der ganze Song nicht nur wunderbar komponiert ist, sondern das persönliche Leid in Töne fast.

Ich bin Avril Lavigne ziemlich dankbar, dass sie ihre Angst und Ohnmacht in Worte und Melodie gefasst hat, denn ich glaube, in der Lobpreiskultur fehlen solche Klagelieder. Natürlich ist das Leben nicht grundsätzlich dunkel, farblos oder beklagenswert, aber Situationen, die sich wie Ertrinken anfühlen, beklemmend und gefährlich, die kennt jede und jeder von sich oder dem persönlichen Umfeld. Ich kenne sie jedenfalls.

Ich glaube schon solange ich denken kann an Gott und ich weiß, dass er mir als Schöpfer, Erlöser und Kraft schon begegnet ist. Dass es viele wunderbare Gottesmomente in meinem Leben gab. Dass sich Glauben wie tiefes Ein- und Durchatmen anfühlen kann. Aber es gab auch die anderen Momente. In denen ich nur noch nach Luft schnappen konnte. Situationen, die mir den Boden unter den Füßen weggerissen haben. Und dann fühlt sich Glauben wie Ertrinken an. 

„God, keep my head above water.

Don´t let me drown, it gets harder.

I´ll meet you there at the altar,

As I fall down to my knees.

Come rescue me, I´ll be waiting,

I´m too young to fall asleep.” 

Genau in solchen Momenten brauchen wir Worte und Gebete, die uns an Gott festhalten. Davon bin ich überzeugt. Die moderne Lobpreiskultur bietet - viel zu selten - auch den Menschen Zeilen und Melodien an, denen gerade nicht nach tanzen, jubeln und Händebeben zumute ist. 

Head above water übersetzt die Klage, die uns aus so vielen Psalmen bekannt ist, tatsächlich in eine zeitgemäße Form. Das Lied bietet einen Sound und eine Stimmung an, die uns heute abholt. Ich wünsche mir sehr, dass wir die Klage wieder lernen. Sie ist der Mut, Gott zu sagen, was gerade so richtig schiefläuft. Aber sie ist auch die Erwartung, dass er doch bitte unseren Kopf über dem Wasser halten möge. Die Klage hält an Gott fest - mit aller Ohnmacht. Niemand hat eine Garantie, was dann wirklich passiert. So viel will ich auch sagen. Vielleicht geht so mancher Schmerz über ein Ereignis oder eine Erfahrung nie weg.

Avril Lavigne schreibt, dass sie es akzeptiert hatte zu sterben und trotzdem hat sie nicht resigniert. Stattdessen formulierte sie eine starke und ehrliche Klage, die sie Gott stakkatoartig ins Gesicht schreit. Sie erlebt in der Klage den Gott, der sich ihr zuwendet. Eine Kraft, die sie am Leben hält. Haben wir diese Form der Klage vergessen? Ich will Psalmen und solche Lieder jedenfalls für mich als Klageform wieder entdecken. Sie inspirieren mich, auch in einer äußersten Notsituation Gott zu bitten, mein Leben nicht untergehen zu lassen, sondern meinen Kopf über Wasser zu halten.