Acht Brillen

Derzeit steht die Deutsche Bahn noch mehr in der Kritik als sowieso schon. Die Züge sind unpünktlicher. Ständig ist irgendetwas defekt. Und wenn sie fahren dann in der falschen Wagenreihung.

Bis Anfang des Jahres pendelte ich täglich zwischen Braunschweig und Elstal hin und her und muss sagen: Es lief auf dieser Verbindung recht flüssig. Meine Züge fuhren zuverlässig. Die Wagenreihung war mir egal. Reserviert habe ich nicht und alleine finde ich immer einen Sitzplatz. Selbst das Internet im ICE funktionierte meist. Ab und zu ein paar Minuten zu spät, aber meist nichts Wesentliches.

Im neuen Jahr ist dies anders: Großbaustelle zwischen Hannover und Berlin. Das heißt für mich: geplant eine halbe Stunde länger unterwegs und einen Umweg über den Berliner Hauptbahnhof. Das nervt. Ob ich den Anschlusszug bekomme ist trotz 25 min Umsteigezeit ein Glücksspiel. Das nervt so richtig.

Neulich war so ein Tag. Zweimal Verspätung. Zweimal vertane Zeit. Was meine miese Laune auf die Spitze treibt: Der Zugbegleiter bedankt sich für die Fahrt mit der Deutschen Bahn ohne auch nur ein Wort der Entschuldigung. Immerhin war dies der letzte Zug an diesem Tag für mich.

Und dann der folgende Tag. Mit dem ICE geht’s wieder Richtung Berlin. Eine freundliche Stimme der Zugbegleiterin begrüßt uns: „Liebe Damen und Herren, wie sie bereits wissen, gibt es derzeit eine Großbaustelle auf der Strecke Hannover-Berlin. Daher können wir nicht mit voller Geschwindigkeit fahren. Im Namen der Deutschen Bahn bitten wir Sie um Entschuldigung für die Unannehmlichkeiten. Als kleine Geste wollen wir Ihnen mit einer kleinen Süßigkeit am Platz eine Freude machen. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Fahrt.

„Och, na immerhin“ denke ich und wenige Minuten später kommt die Zugbegleiterin vorbei. In den Reihen vor mir nehmen sich manche Passagiere eine Süßigkeit. Andere lehnen ab. Als sie bei mir ist, greife ich ohne groß nachzudenken zu. Es ist eine kleine Gummibärchentüte.

Na, toll: Gummibärchen! Das ist also die Entschädigung dafür, dass ich länger im Zug sitze. Zehn winzige Gummibärchen für mind. 30 Minuten Verspätung. Und dabei mag ich noch nicht mal Gummibärchen. Ich bekomme von ihnen Bauschmerzen. Jede andere Süßigkeit ist mir lieber. Was ein Ärger… Ich stecke die Tüte und meinen Ärger weg und denke über "wichtigere" Dinge nach.

In Elstal angekommen laufe ich jeden Morgen einen kleinen Weg durch den Wald hoch ins Büro. Eine gute Möglichkeit den Kopf frei zu bekommen. Wach werden und Sauerstoff tanken. Oft denke ich über die anstehenden Dinge und Themen nach oder lass mich von Bäumen auf meinem Weg inspirieren.
In zwei Wochen habe ich wieder Gottesdienstmoderation. Einen klaren Zielgedanken habe ich noch nicht, aber das Thema wird Dankbarkeit sein. Vermutlich steht Psalm 103 im Mittelpunkt: "Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat." Auf dem Weg durch den Wald überlege ich, wie ich dies im Gottesdienst thematisieren kann. Tja, oft vergesse ich es. Dankbar könnte ich für so vieles sein.

Eher zufällig wandert meine Hand in die Jackentasche und spürt dort eine kleine, bekannte Plastiktüte von heute Morgen. Da ist er wieder mein Ärger. Doch dieses Mal nicht über die Deutsche Bahn. Nicht über gesüßte Gelatine Bärchen, die mir nicht schmecken. Jetzt ärgere ich mich über mich selbst und meine Undankbarkeit…