Acht Brillen

"Ihr sagt, ich sei ein Verräter, nicht wahr? Das Gegenteil von einem treuen und verlässlichen Jünger. Ich hätte den Herrn verraten und verschwände dann von der Bildfläche, weil ich nicht mit der Schuld leben konnte – so erzählt ihr euch doch meine Geschichte.

Es war aber ganz anders. Eine Hoffnungsgeschichte, die zu früh zu Ende ging, weil mein eigenes Bild von Jesus stärker war als das, was er mir von sich zeigte.

Drei Jahre habe ich den Geist gespürt, der ihn umwehte: Neues Leben, gerechtes Handeln. Wenn er ankündigte, sterben zu müssen, schien mir das nur konsequent. Er verkörperte die radikal andere Gesellschaft – Reich Gottes eben.

In so vielen Situationen war schon etwas von der neuen Gesellschaft zu sehen: Er hinterfragte die Konventionen so lange, bis es kaum noch jemand aushielt. Alle Gedemütigten bekamen bei ihm Ansehen – deutlich mehr als man ihnen zugestehen wollte. Seine Kritik an den abwertenden Verhältnissen war viel schärfer als bei anderen.

Mich inspirierte dieses Reich Gottes, diese neue Gesellschaft. Und ich wollte, dass sie endlich kommt. Als wir während des Passahfestes in Jerusalem waren, gab es ein paar Situationen, die mich ermutigten. Und schließlich sagte er selbst am Tisch zu mir, dass ich es tun sollte.

Unser Treffpunkt in Gethsemane musste ich nicht verraten. Es brauchte auch keinen Kuss, damit er nicht verwechselt würde – die Leute kannten ihn ja. Es sollte das große Finale werden – die Gelegenheit, die neue Gesellschaft sichtbar werden zu lassen. Gegenüber der korrumpierten religiösen Führung und gegenüber der römischen Besatzung gleichermaßen. Ich wollte es organisieren und er gab mir das OK.

Als er sich einfach so abrühren ließ, als er verurteilt wurde, wusste ich, dass meine Hoffnung eine Illusion war. Ich hatte ihn falsch verstanden. Das Reich Gottes kommt nicht durch Gewalt und Überlegenheit, sondern durch Sanftmut.

Als ich von seinem Tod hörte, konnte ich nicht anders – ich musste mit ihm gehen."

 

(erschienen im Kalender "Osterleute")