Acht Brillen

Lieber unbekannter Leser1,

Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie oft ich diesen Brief in meinen Gedanken bereits an Dich geschrieben habe. Wie oft ich schon nachts wachgelegen und darüber nachgedacht habe, warum Du die Dinge wohl geschrieben hast, die Du über mich, meine Arbeit und meine Gottesbeziehung so öffentlich geäußert hast.

Ich kenn Dich nicht. Ich weiß einfach gar nichts über Dich.

Welche Musik magst Du wohl? Was bringt Dich zum Lachen? Welchen Hobbies gehst Du nach? Gehst Du gern ins Kino, auf Konzerte oder ins Museum? Was beschäftigt Dich in Deiner Arbeit? Wo schlägt Dein Herz höher? Was bereitet Dir Sorgen? Hörst Du genauso gerne Lobpreismusik wie ich?

Wie ich?!

Du kennst mich nicht. Du weißt eigentlich nichts wirklich über mich.

Weißt nicht, welche Bücher ich gerade lese. Weißt nicht, wann ich das letzte Mal verreist bin. Weißt nicht, an welchen Orten ich schon gelebt habe, welchen Menschen mein Herz gehört, wie lange ich schon mit Jesus unterwegs bin und wie sehr er mein Leben prägt.

Und dennoch fühle ich mich so, als scheinst Du über mich Wichtiges zu kennen; zu wissen, in welcher ‚Ecke‘ ich stehe und wie es um meine geistliche Haltung bestellt ist.

Ich frage mich, wie sich das wohl für Dich angefühlt hat, Deine Zeilen zu schreiben und öffentlich zu verbreiten. Warst Du wirklich die ganze Zeit 100%ig überzeugt, dass Du im Recht bist und der Zweck alle Mittel heiligt? Oder gab es da auch die kleine Stimme innendrin - irgendwo im Hinterkopf -, die Dich ganz leise gefragt hat: „Meinst Du wirklich?! Solche Worte? Solch einen Angriff? Solch Abwertung einer Dir unbekannten Person?“

Bitte versteh mich nicht falsch! Mich beschäftigt Dein Beitrag nicht, weil Du meine Meinung nicht teilst. Ganz im Gegenteil. Menschen mit anderen Blickwinkeln finde ich spannend. Wie oft habe ich es schon erlebt, dass sie mir ein Fenster zu Gott sein können und ich durch sie wieder etwas Neues über meinen Schöpfer gelernt habe.

Mich beschäftigt Dein Beitrag, weil er abwertend ist, weil er verurteilt, spottet und keinen Raum für andere Meinungen zulässt.

Das Spannende ist, dass ich mir bereits vor der Veröffentlichung unseres Artikels in HERRLICH1 immer wieder über Kommentare wie den Deinen Sorgen gemacht habe. Ja, sogar Angst davor hatte.

Keine Angst vor ehrlichem Austausch, ehrlichem Diskutieren und gemeinsamen Ringen. Keine Angst davor, eine andere Meinung in den Raum zu stellen, die nicht unbedingt von alle Menschen geteilt wird, die es aber dennoch verdient hat, gehört zu werden.

Doch je mehr ich mir diese Angst angeschaut habe, desto mehr habe ich mich dafür entschieden, mutig zu sein und meinen Text zu veröffentlichen. Ich möchte nämlich nicht Teil einer Kirche sein, in der Menschen Angst davor haben müssen, dass sie von anderen Brüdern oder Schwestern verächtlich herabgewürdigt werden, wenn sie sich mit ihrem Gottesverständnis, ihrer Sexualethik, ihrer theologischen Arbeit zeigen. Ich möchte Teil einer Kirche sein, in der strittigen Ansichten wechselseitig respektiert werden.

Seit langem beschäftigen mich die folgenden Worte aus einer Rede Theodor Roosevelts:  

 „Nicht der Kritiker zählt;
nicht derjenige, der aufzeigt, wie der Starke gestolpert ist
oder wo der, der anpackt, es hätte besser machen können. 

Die Anerkennung gebührt dem,
der wirklich in der Arena steht;

dessen Gesicht verschmiert ist von Staub und Schweiß und Blut;
der tapfer strebt;
der irrt und wieder und wieder scheitert,
denn es gibt keine Anstrengung ohne Irrtum und Fehler;
der jedoch wirklich danach strebt,  die Taten zu vollbringen;
der die große Begeisterung kennt, die große Hingabe,
und sich an einer würdigen Sache verausgabt;
der im besten Fall am Ende den Triumph der großen Leistung erfährt;
und der im schlechtesten Fall, wenn er scheitert,
zumindest dabei scheitert, dass er etwas Großes gewagt hat,
so dass sein Platz niemals bei den kalten und furchtsamen Seelen sein wird,
die weder Sieg noch Niederlage kennen.“

(Theodore Roosevelt)

Mich bewegen diese Worte, weil ich fest davon überzeugt bin, dass es im Leben nicht darauf ankommt, irgendwo am Rand in der zweiten Reihe zu stehen, zu spotten, zu kritisieren oder zu verurteilen, sondern sich mutig „in die Arena“ zu wagen, immer in dem Wissen, dass Fehler und Irrtum möglich sind.

Am Ende würde ich Dich gerne einladen, auch in die Arena zu steigen und nicht von der zweiten Reihe aus zu agieren. Wie könnte das aussehen?! Ehrliche Wertschätzung uns und unserer Meinung entgegen zu bringen und gleichzeitig Deinen Blickwinkel, Dein Verständnis und Deine Gedanken anzubieten.

Ich habe jedenfalls beschlossen, nachts wieder zu schlafen statt Antwortbriefe zu verfassen und weiterhin mutig „in die Arena“ zu steigen, immer in dem Wissen, dass Fehler und Irrtum möglich sind, aber auch im Vertrauen, dass ich in Jesus „Gnade um Gnade“ zugesprochen bekomme (Johannes 1,16).

Vielleicht bis bald irgendwo in Person an einem gemeinsamen Tisch, Sam

 

 

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1 Als GJW publizieren wir zwei Mal im Jahr HERRLICH. Ein Magazin, das bundesweit an Gemeinden und Mitarbeiter*innen in der Arbeit mit Kinder und Jugendlichen kostenlos verschickt wird. Ziel von HERRLICH ist es, Gedanken und Ideen zu thematisieren, die relevant sind für diejenigen, die junge Menschen begleiten und mit ihnen im Alltag danach suchen, wie der christliche Glaube im heutigen Kontext relevant und realitätsnah gelebt werden kann. HERRLICH bietet die Möglichkeit Dinge anzusprechen, die im Gemeindealltagstrubel manchmal zu kurz kommen. So wurde für die Ausgabe 02 | 2018 von HERRLICH der Titel  „All you need is love – Von Liebe, Sex und Zärtlichkeit“ gewählt.

Der Beitrag „(Fast) vergessene Fragen Liebe, Beziehung, Sex“, der unter anderem von mir stammt, hat besonders viele Reaktionen bei unseren Leser*innen hervor gerufen. Sowohl kritisches wie auch positives Feedback gab es. Das Spannende an dem kritischen Feedback war, dass es einerseits Stimmen gab, die sich zwar sachkritisch, aber dennoch wertschätzend uns als Personen gegenüber geäußert haben. Andererseits gab es auch eine Form des kritischen Feedbacks, bei dem nicht nur unsere Meinung, sondern unsere Person, unsere Kompetenz und unsere geistliche Haltung in Frage gestellt wurden.

Es ist letzteres Feedback, auf das ich mit diesem Blogbeitrag Bezug nehme. Der mir ‚unbekannte Leser‘ ist in diesem Fall eine Mischung aus Briefen, Mails, Blogbeiträgen, Facebook-Kommentaren verschiedener Personen, die sich in dieser Form geäußert haben.

Es ist mir ein Anliegen, darauf aufmerksam zu machen, dass Feedback immer etwas mit Personen macht und in den seltensten Fällen nicht persönlich ist. Dieser Blogartikel ist der Versuch, meiner eigenen Betroffenheit Raum zu geben und zum Nachdenken einzuladen, welche Feedbackkultur wir fördern und wie wir miteinander in einen konstruktiven kritischen Diskurs einsteigen können.