Acht Brillen

Als Kind war ich ein großer Fan von Karl May. Ich habe alle seine Bücher gelesen. Alle! Jedenfalls jene, die in den 90 Bänden der Gesammelten Werke erschienen sind. Die mit den grünen, goldschnittverzierten Umschlägen und den bunten Titelbildern. Harry Potter gab es damals ja noch nicht. Und mal ehrlich: Was sind schon sieben Bände Harry Potter gegen die Karl May-Gesamtausgabe!?

Aus Karl May habe ich meine kindliche Bildung über den Wilden Westen, Mittelamerika und den Vorderen Orient. Ich bin mit Winnetou und Old Shatterhand über die Prärie geritten und mit Kara Ben Nemsi Effendi und Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah durch die Wüste gezogen. Noch heute kann man mich nachts um drei wecken und nach diesem Namen fragen, und ich kann ihn fehlerfrei herunterrattern!

Karl Mays Wildwest-Romanen verdanke ich auch meine Erstbegegnung mit indianischer Spiritualität. Von Manitou war da die Rede, dem „Großen Geist“, der die ganze Schöpfung durchweht. Alles kam darauf an, mit diesem Großen Geist im Einklang zu leben. Keine Ahnung, ob der Cowboy aus Sachsen diesen Aspekt indianischer Kultur und Religion korrekt beschrieben hat. Schließlich hat Karl May die Länder, in denen seine Romane spielen, nie mit eigenen Augen gesehen. Erst gegen Ende seines Lebens verließ er zum ersten Mal seine sächsische Heimat, um in den Orient und später auch nach Amerika zu reisen. Egal! Joanne K. Rowling war auch nie in Hogwarts! Hogwarts gibt’s nicht mal!

Manitou, so habe ich später bei Religionswissenschaftlern gelernt, ist das „Allumfassende Geheimnis“ oder die „Große Kraft“, die in allen Wesen, Dingen, Tätigkeiten und Erscheinungen enthalten ist. Ob damit ursprünglich rein pantheistische Vorstellungen verknüpft waren – Manitou als unpersönliche, den gesamten Kosmos durchdringende „Weltseele“ – oder ob diese Kraft auch als „persönliche Gottheit“, als „Höchstes Wesen“ verstanden wurde, ist umstritten. Im heutigen Panindianismus jedenfalls wird dieses Wort häufig für den Schöpfergott im Sinne des christlichen Glaubens verwendet – wenn auch mit „indianischer Prägung“.

 

Als Kind hat mir Karl May geholfen zu verstehen, welche Rolle der „Heilige Geist“ im christlichen Glauben spielt. Christen tun sich ja manchmal etwas schwer mit dem „Geist Gottes“. Das hat mit der Komplexität der christlichen Trinitätslehre und mit der Bedeutung des Wortes „Geist“ in unserer Sprache und im abendländischen Denken zu tun.

Wenn wir von „Geist“ sprechen, dann meinen wir damit oft etwas, das im Gegensatz zum Körper, zur Materie steht. Etwas nicht Materielles, Übersinnliches, Überirdisches. Doch wer das biblische Wort für „Geist“ – hebräisch ruach, im Hebräischen übrigens ein Femininum, ein weibliches Wort („die ruach“); man müsste also eigentlich „die Geistin“ übersetzen, nicht „der Geist“ –, wer dieses Wort ruach verstehen will, der muss das abendländische Wort „Geist“ vergessen.

 

Ruach war ursprünglich wohl ein lautmalerisches Wort für den Atem oder Wind. Das kann man sich sehr schön mit einer kleinen Atemübung vergegenwärtigen: Wenn man mehrmals hintereinander langsam aus- und wieder einatmet und dabei die Silben des Wortes ru-ach mitdenkt oder leise mitspricht, dann merkt man, was gemeint ist!

Die ruach ist das, was den Menschen und alles, was lebt, lebendig macht. Und weil man die Lebendigkeit des Lebens im Ein- und Ausatmen der Luft wahrnahm, galt die ruach als Lebensatem und Lebenskraft von Menschen und Tieren (Koh 12,7; 3,21). Die ruach steht aber auch für den Sturmwind, z.B. für jenen Wind, der zu Beginn der Schöpfung über den Chaoswassern der Urflut weht (Gen 1,2) oder das Schilfmeer für den Auszug Israels aus Ägypten teilt (Ex 14,21).

Ruach meint also immer etwas Lebendiges gegenüber dem Toten, etwas Bewegendes gegenüber dem Erstarrten. Dabei wird unterschieden zwischen der schöpferischen Lebenskraft Gottes und der geschaffenen Lebenskraft alles Lebendigen: „Du nimmst weg ihre ruach und sie vergehen; du sendest aus deine ruach, so werden sie geschaffen und du erneuerst das Antlitz der Erde.“ (Ps 104,29f)

 

Wenn wir von der ruach, vom „Geist Gottes“ sprechen, dann meinen wir also die wirkende Gegenwart Gottes in dieser Welt und in unserem Leben, seine schöpferische, lebendig machende Kraft. Das ist sicher nicht dasselbe wie die indianische Manitou-Vorstellung. Vor allem nicht, wenn man sie pantheistisch versteht. Nach jüdisch-christlichem Glauben geht Gott nämlich nicht in seiner Schöpfung auf, sondern bleibt als ihr Schöpfer immer auch ihr Gegenüber. Doch so sehr die ruach als „Geist Gottes“ jenseitigen, transzendenten Ursprungs ist, so sehr ist sie als „Lebenskraft alles Lebendigen“ mitten in dieser Welt wirksam. Bei dem evangelischen Theologen Jürgen Moltmann liest sich das so:

 

„Die Schöpferkraft Gottes ist die transzendente, die Lebenskraft des Lebendigen, die immanente Seite der ruah. Die ruah ist gewiss nur da, wann und wo Gott es will, aber mit seinem Willen zur Schöpfung ist sie in allen Dingen präsent und hält sie im Dasein und am Leben. Im Blick auf die ruah muss man sagen, dass Gott in allen Dingen ist und alle Dinge in Gott sind, ohne dass damit Gott und alle Dinge gleichgesetzt werden.“ (Moltmann, Geist des Lebens, 55f).

 

Und noch etwas ist wichtig, wenn wir begreifen wollen, was der „Geist Gottes“ für uns bedeuten kann: Das hebräische Wort für „Geist“ (ruach) ist aller Wahrscheinlichkeit nach verwandt mit dem hebräischen Wort für „Weite“ (rewach). Die ruach, die „Geistkraft Gottes“, schafft also Raum, sie führt aus der Enge in die Weite, sie setzt in Bewegung und macht so lebendig. Noch einmal Jürgen Moltmann:

 

„In der Erfahrung der ruah wird das Göttliche nicht nur als Person und auch nicht nur als Kraft, sondern auch als Raum erfahren, und zwar als jener Raum der Freiheit, in welchem sich das Lebendige entfalten kann. Das ist die Erfahrung des Geistes: ‚Du stellst meine Füße auf weiten Raum’ (Ps 31,9). ‚Auch dich lockt er aus dem Rachen der Angst in weiten Raum, wo keine Bedrängnis mehr ist.’ (Ijob 36,16)“ (Moltmann, Geist des Lebens, 56)

 

Darum sagen wir nicht nur: „Der Geist Gottes lebt in uns“, sondern auch „Wir leben im Geist Gottes“.

 

Soweit der kleine Ausflug in die Vorstellung der hebräischen Bibel vom Geist Gottes. Meine eigene Spiritualität speist sich aus dieser Quelle. Darum kreist sie um die Stichworte „Leben“ und „Freiheit“. Gottes Geist ist wirklich ein „Großer Geist“!

Er ist die Lebenskraft, der „Atem“ in allem, was lebt (ohne darin aufzugehen). Im Einklang mit dem Geist Gottes zu leben bedeutet darum für mich, Leben zu erhalten, zu schützen und zu fördern, so gut ich es eben kann. Das hat Konsequenzen für mein persönliches Leben, aber auch für mein Engagement in Gemeinde und Gesellschaft.

Die Erfahrung des Geistes ist darüber hinaus eine Befreiungserfahrung. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ (2 Kor 3,17b) Der Geist Gottes befreit aus der Enge der Angst. Er eröffnet neuen Lebensraum in der Weite der guten Gedanken Gottes. Im Einklang mit dem Geist Gottes zu leben bedeutet darum auch, weit zu werden, sich allem Einengenden, Behindernden, Aus- und Eingrenzenden entgegenzustellen, selbst den Geist der Freiheit zu atmen und andere in die Freiheit zu rufen oder in Freiheit zu setzen.

 

Literatur:

Christian F. Feest, Beseelte Welten – Die Religionen der Indianer Nordamerikas. In: Kleine Bibliothek der Religionen, Bd. 9. Herder, Freiburg / Basel / Wien 1998.

Bernd Janowski / Klaus Scholtissek, Geist. In: Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 5. Aufl. 2016, 217-219.

John Macquarrie, Panentheismus. In: Theologische Realenzyklopädie 25. Walter de Gruyter, Berlin / New York 1995, 611-615.

Jürgen Moltmann, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie. Chr. Kaiser, München 1991.