Brav,
mädchenhaft,
makellos,
demütig,
keusch.
Mit ergebenem Blick,
glänzenden Augen
und ehrfürchtiger Miene.
Kein Widerwort erwartet man aus den Mündern der Marienbilder. Kein Kraftausdruck könnte ihren zarten Konturen entwischen. Die Weihnachtsromantik hat sie bis zur Unkenntlichkeit verkitscht.
Ja, genau so haben wir uns Maria zurechtgelegt. Wir! Uns!
Sie selbst stellt sich anders vor.
Da sagte Maria:
»Ich lobe den Herrn aus tiefstem Herzen.
Alles in mir jubelt vor Freude über Gott, meinen Retter.
Denn er wendet sich mir zu, obwohl ich nur seine unbedeutende Dienerin bin.
Sieh doch: Von jetzt an werden mich alle Generationen glückselig preisen.
Denn Gott, der mächtig ist, handelt wunderbar an mir. Sein Name ist heilig.
Er ist barmherzig zu denen, die ihn ehren und ihm vertrauen – von Generation zu Generation.
Er hebt seinen starken Arm und fegt die Überheblichen hinweg.
Er stürzt die Machthaber vom Thron und hebt die Unbedeutenden empor.
Er füllt den Hungernden die Hände mit guten Gaben
und schickt die Reichen mit leeren Händen fort.
Er erinnert sich an seine Barmherzigkeit und kommt seinem Diener Israel zu Hilfe.
So hat er es unseren Vätern versprochen: Abraham und seinen Nachkommen für alle Zeiten!«
(Lk 1,46-55 nach der Basisbibel)
Sie formuliert etwas ganz Großes in einem schlichten Lied. Sie singt von der Umkehrung der Gesellschaft, von Gerechtigkeit für die Entrechteten, von Ausgleich für erlittenes Unrecht und Aufrichtung derer, die gebeugt wurden. Je länger das Lied, desto grundsätzlicher und weitreichender sind die Aussagen.
„Wo ist eigentlich Deine Vorstellung einer gerechten Gesellschaft?“ fragt mich Maria. Der Blick, den ich von ihr wahrnehme, hat nichts mit der Ergebenheit der Marienbilder zu tun. Er ist fest, er ist überzeugt und er scheint auf etwas ausgerichtet, das ich nicht sehe.
„Was ist jetzt? Hast Du keine?“ bohrt sie nach.
Zögerlich lasse ich den Gedanken zu, meinem Glauben fehle etwas Entscheidendes. Mir fehlt genau das, was sie zu sehen scheint: die gerechte Welt. Hungernde bekommen genug zu essen und die im Überfluss werden mit leeren Händen nach Hause geschickt. Die Unbedeutenden bekommen Bedeutung, ihre Stimme wird gehört. Und den Bedeutungsüberladenen, den Aufgeblasenen wird die Luft rausgelassen.
„Brauche ich überhaupt so eine Utopie?“ frage ich. „Ist das nicht ein bisschen weltfremd?“
Utopie heißt übersetzt ‚der gute Ort‘, lerne ich, eine orientierende Zielmarke, nach der man sich richten kann. Für Maria war es offenbar nicht weltfremd, dass diese Welt sich völlig ändern könnte, dass Macht umgekehrt wird.
„Maria, wie würdest du heute singen?“ frage ich. "Brauchen wir heute solche Utopien eigentlich noch? Reicht es nicht, wenn wir uns mit unserer kleinen Welt begnügen? Müssen wir uns die Probleme der großen Welt andauernd vor Augen halten?"
„Ich glaube schon," sagt sie, "vielleicht würde ich gar nicht singen, sondern Reden halten. Vielleicht würde ich heute Nadia Murad heißen. Du weißt schon, Nadia, die mit 21 Jahren den Genozid an den Jesiden überlebte, dabei 18 Familienmitglieder verlor – darunter ihre Mutter und sechs Geschwister – und die mit 22 Jahren zur Stimme ihres Volkes wurde, unter anderem vor den Vereinten Nationen. Nadia, die 2018 den Friedensnobelpreis bekam.“ „Was muss passieren, damit ihr etwas tut?“ fragt Nadia die versammelte Welt vor der UN-Vollversammlung.
„Vielleicht würde ich heute Emma Gonzales heißen.“ sagt sie. „Du weißt schon, Emma, die mit 18 Jahren das Schulmassaker in Parkland (USA) überlebte und seither eine der Stimmen der Bewegung ‚March For Our Lives‘ ist.“ „Das ist jetzt meine Welt“ sagt Emma und macht damit deutlich, dass sie sich hörbar einmischen wird.
Nadia und Emma sehen diese bessere Welt. Sie haben eine Utopie vor Augen – sie sehen einen ‚guten Ort‘, an dem sie sich orientieren können.
„Was ist mit Dir?“ fragt Maria mich. „Hast Du inzwischen Deinen guten Ort gefunden? Singst Du mit mir dieses Lied?“
Ich ahne, dass es mir viel abverlangt, wenn ich mit Maria in ihr Lied einstimmen will. Emma und Nadia sind mir da deutlich voraus und singen schon mit.