Besuche in der Heimat der Kindheit sind immer besonders. Und manchmal ereignen sich interessante Begegnungen.
Neulich beim Kaffee war es mal wieder soweit. Es klingelte und Björn* stand vor der Haustür meiner Eltern. Auch nach 25 Jahren kann ich Björn an dem charakteristisch gerollten „R“ und seiner sonoren und druckvollen Stimme erkennen, ohne ihn zu sehen. Mit breitem Grinsen stand er gleich darauf im Esszimmer und begrüßte die Runde. Das ist bei meinen Eltern immer so. Menschen wie Björn sind herzlich willkommen und finden irgendwie auch noch einen Platz am Tisch.
Ich bin in einem kleinen Dorf in Mecklenburg aufgewachsen. Man muss durch einen dichten Wald und nach der Frage, ob man hier richtig sei, noch zwei Kilometer geradeaus. Etwa 200 Menschen leben dort. 120 davon in einem Wohnheim für Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen. Auch Björn lebte eine lange Zeit seines Lebens dort und wir kennen uns seit ich ein Kind und er ein junger Mann war.
Kaffee schwarz und ein schönes Stück Kuchen – gerne auch zwei und Björn ist ein sehr zufriedener Mensch. Wer mit Björn isst, erlebt erlesene Umgangsformen – etwas ungelenk praktiziert, aber erlesen. Zwischendurch klingelt sein Telefon – ein altes Klapphandy der ersten Generation. Äußerst beflissen meldet er sich. Es ist seine Mutti. Wenn Björn von seiner Mutti spricht, schwingt ganz und gar nichts „muttihaftes“ mit, sondern Vertrauen, Geborgenheit und auch die Möglichkeit der Korrektur. Mit seinen etwa 50 Jahren braucht Björn Menschen, die ihn verlässlich durchs Leben begleiten. Aus seinen für alle am Tisch gut hörbar ins Telefon gesprochenen Antworten wird klar, dass sie ihn gefragt hat, wo er denn sei. Das macht sie immer, wenn er weite Touren mit dem Fahrrad fährt. Ob er denn auch nicht störe? Nein, er störe ganz und gar nicht, er sei ja bei seinen Freunden – und dann zählt er die Namen meiner Eltern auf und dann auch meinen. Alle mit Vor- und Nachnamen. Und die „R“ in unserem Nachnamen rollten immer doppelt.
Ich bin Björns Freund. Es fühlt sich ehrenvoll an. Und ich frage mich, wie ich zu dieser Ehre komme, von Björn als Freund bezeichnet zu werden.
Als meine Geschwister und ich Kinder waren, wurden meine Eltern mal gefragt, ob sie nicht Angst hätten, dass das auf uns Kinder abfärbe. Gemeint war die geistige Behinderung der vielen Menschen um uns herum. Als sei das eine ansteckende Krankheit. Noch im Nachhinein erschrecke ich über diese Frage und die Implikationen, die damit verbunden sind.
Nein – bis auf einen gelegentlichen Schnupfen sind sie alle ziemlich gesund. Sie haben andere Fähigkeiten und andere Einschränkungen als andere Menschen, aber nichts davon ist ansteckend. Sie alle brauchen Menschen, die sie verlässlich und als Freunde durchs Leben begleiten. So wie ich auch. Und sie sind eben solche Menschen, die andere verlässlich begleiten.
Björn musste irgendwann wieder aufbrechen. Er hatte es seiner Mutti versprochen. Fahrradhelm auf, Fahrradhandschuhe an – die gesamte Ausrüstung wurde akribisch gerichtet. Mir bleibt die Begegnung und die vollkommen unerwartete Bezeichnung als Freund und ich freue mich darüber. Gleichzeitig merke ich, wie mir diese Begegnung nachgeht.
Damals, als wir als Kinder mit alten, selbst zusammengebauten Fahrrädern, die nur zwei Räder, einen Sattel, einen Lenker und einen Margarinedosendeckel in den Speichen (um den Sound zu optimieren) als Ausstattungsmerkmale hatten, halsbrecherisch durchs Dorf und die Wälder rasten, waren Begegnungen mit Björn und vielen anderen normal. Heute sind sie für mich selten geworden. Ich lebe inzwischen in ganz anderen persönlichen und gesellschaftlichen Bezügen.
Nein, Björn, Du hast da neulich überhaupt nicht gestört. Du warst ja bei Deinen Freunden. Aber meine Gedanken und meine Selbstverständlichkeiten, die hast Du gestört. Dafür danke ich Dir.
* Name geändert – vielleicht ist sein richtiger Name auch Jesus