Acht Brillen

Station 1
Ich steige ein. Ich freue mich, dass ich ein leeres Viererabteil nur für mich ergattert habe. Das tut auf dem Heimweg nach einem anstrengenden Arbeitstag gut.

Station 2
Die U-Bahn füllt sich. Mir gegenüber setzen sich zwei Jungen hin. Vielleicht neun Jahre alt. Der eine spielt mit seinem Smartphone und hat Stöpsel in den Ohren. Der andere hat ein hippes Cap auf und schaut ihm über die Schulter.

Station 3
Ich frage mich, wie meine Kindheit gewesen wäre, wenn ich auch solche Styler-Klamotten und ein Smartphone gehabt hätte. Ich fand mich mit meinem GameBoy Pocket schon cool.

Station 4
Aus der Entfernung höre ich ein: „Entschuldigen Sie bitte die Störung. Es tut mir leid, dass ich Sie belästige, aber ich habe eine kleine Bitte. Ich bin obdachlos und würde mich sehr freuen, wenn Sie mich unterstützen würden. Vielleicht mit ein bisschen Geld, etwas zu Essen, zu Trinken oder einer leeren Pfandflasche. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“

Es ist nichts Besonderes, dass jemand durch die Wagen der Berliner U-Bahn geht und so oder so ähnlich fragt. Ich beobachte in solchen Situationen gerne die Reaktion der Mitfahrenden. Es ist ein bisschen, wie bei einem dieser Filme, bei dem man die Handlung und das Ende schon nach wenigen Minuten vorhersagen kann.

In so einem Fall schauen die einen krampfhaft auf ihr Smartphone, auf den Boden oder aus dem Fenster, was in einer U-Bahn nur bedingt sinnvoll ist. Man merkt diesen Personen an, dass ihnen diese Situation unangenehm ist und sie der Situation entfliehen möchten. Das Motto: Bloß nicht bewegen, ich bin unsichtbar.

Die anderen sind konfrontativer und geübter. Die fragende Person wird erst flüchtig angeschaut und dann beim zweiten Blick mit vorbereiteten Wortfetzen oder Gesten bedient: „Nein“, Kopf schütteln, kurzes Lächeln, Blick nach unten. Das Motto: Du bist mir unangenehm, ich bin höflich zu dir.
Ich begebe mich also ganz in die Rolle des Zuschauers. In Gedanken habe ich das Popcorn in der Hand, vergessen sind die schmerzlichen Gedanken, in denen ich meinen GameBoy mit dem Smartphone des Jungen verglichen habe.

Ich kann den Text des Fragenden auswendig mitsprechen, weiß, dass sich gleich einige wegdrehen und aus dem Fenster schauen werden und die anderen müde-genervt „Nein“ sagen. Ich fühle mich bestätigt und vergesse, dass ich Teil des Dramas bin.

Die Jungs fallen in mein Blickfeld. Sie sind in meinem Film nicht vorgesehen. Ich frage mich, wie sie reagieren werden. Immerhin sitzen sie in der ersten Reihe meines Dramas, sind im Fokus dieser Szene. Hätte ich das Drehbuch für diesen Film geschrieben, hätte ich ihnen im Sinne der Dramaturgie eine gewichtige Aufgabe gegeben – aber ich bin ja nur der Zuschauer.
Der Fragende kommt auch bei uns vorbei. „Hat jemand etwas Geld oder etwas zu Essen, zu Trinken oder eine leere Pfandflasche?“ Ich beobachte. Er geht weiter.

Plötzlich springt der Junge mit dem Cap auf und kramt in seinem Rucksack. Er holt ein paar Münzen raus. Er nimmt sich das 2€-Stück, macht seinen Rucksack wieder zu und rennt dem Fragenden hinterher. Als er wieder zurückkommt, schaut er seinem Freund wieder über die Schulter. Als wäre nichts gewesen.

Station 5
Der Fragende ist ausgestiegen. Und ich bin völlig perplex. Damit hätte ich nie gerechnet. 2€ waren für mich als Kind eine Menge Geld. Dafür rennt der Junge dem Fragenden sogar hinterher. Ich fühle mich ertappt. Der Junge macht mir vor wie es auch geht. Während ich mich in die Meta-Ebene zurückziehe, lässt er sich von dem Fragenden berühren. Er zeigt mir, dass es auch diese Option gibt, auf den Fragenden zu reagieren.

Station 6
Die Jungs steigen aus und lassen mich mit meinem Drama zurück. Ich kann davon nicht loslassen. Ich schäme mich. „Seid wie die Kinder“ schießt mir durch den Kopf und „Was ihr einem meiner Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“ Ich fühle mich abgestumpft und ertappt: Der „Drehbuchautor“ hat den Jungen also doch eine Aufgabe in diesem Drama gegeben. Und was für eine.

Station 7
Meine Station. Ich steige aus.