Acht Brillen

Mich hat es in den Norden Kanadas verschlagen. Mal wieder mitten im Winter. Das ist meine Lieblingszeit, um hierherzukommen. Die ersten Tage der Tour liefen nach Plan. Aber jetzt hat ein Schneesturm die Strecke vor uns mit meterhohen Schneewehen bedeckt. Der Sturm hat sich zwar inzwischen gelegt, aber bis die Schneepflüge die Straße geräumt haben, stecken wir fest. Und das kann dauern! Wir haben es bis Eagle Plains geschafft, ein kleiner Außenposten am Dempster Highway mit gerade Mal neun Bewohnern. Mitten im Nirgendwo, ein paar Kilometer vom Polarkeis entfernt.

Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass mir das hier passiert. Schön blöd! Schließlich wollen wir weiter nach Inuvik und von dort die Ice Road hoch bis nach Tuktoyaktuk. Ein paar Tage hier festzuhängen, können wir nicht gebrauchen. So wie ich mich kenne, müsste ich mich eigentlich gewaltig darüber aufregen. Aber das passiert nicht. Die Umgebung lässt es einfach nicht zu. Alle sind ganz ruhig und sitzen geduldig in der kleinen Gaststube und spielen Karten, trinken tagsüber Kaffee, abends Bier. 

Außer meinen Reisegefährten stecken noch ein paar Ice Road Trucker mit uns fest. Die sitzen den ganzen Tag bei laufendem Motor in ihren Trucks und kommen ab und zu rein, wenn ihnen nach Gesellschaft ist oder sie frischen Kaffee brauchen. Nach und nach kommen wir ins Gespräch. Ich unterhalte mich etwas länger mit Eric. Er fährt den Dempster Highway und die Ice Road schon, seit die Strecke Ende der 70er eröffnet wurde. Ob es ihn nicht aufregt, dass er hier feststeckt, frage ich ihn. Schließlich kann er seine Fracht jetzt nicht pünktlich abliefern. Er trinkt einen Schluck Kaffee und grinst: Wenn man um diese Zeit des Jahres hier lang fährt, WEISS man doch, dass man irgendwo hängen bleibt. Das ist halt so. 

Ja, denke ich, das ist so. Hier ist man es gewohnt, dass die Natur den Menschen immer wieder überwältigt und man sich damit arrangieren muss. Wenn ein Schneesturm über die Strecke zieht, müssen wir warten. Es gibt keine Ausweichstrecke. Nur Geduld. Das nervt zunächst, aber wenn ich länger darüber nachdenke, beruhigt es auch. Und inspiriert: Es ist okay, nicht über alles die Kontrolle zu haben. Hier kann man das gut lernen. In Deutschland, wo sich die Illusion völliger Kontrolle viel leichter aufrechterhalten lässt, ist das schwierig. Da habe ich ständig das Gefühl, es wird von einem erwartet, immer alles im Griff zu haben. Überwältigt zu werden, dem Verlauf der Ereignisse handlungsunfähig entgegensehen zu müssen, ist ein No-Go. Aber hier, wo allen klar ist, dass man sich nach dem richtet, was die Natur gerade zulässt, ist das anders: Wir warten geduldig darauf, dass die Straße wieder befahrbar ist. Der Tag vergeht langsam. Mit Dösen, Kaffee trinken und Unterhalten schlagen wir die Zeit bis zum Abend tot. Da wir ohnehin nichts Sinnvolles tun können, gehen wir früh ins Bett.

In der Nacht ist es sternenklar. Wir haben Neumond und sind hunderte Kilometer von der nächsten Stadt entfernt. Draußen ist es stockdunkel. Wenn ich in Nordkanada unterwegs bin, habe ich immer die Polarlichtvorhersage im Auge. Daher weiß ich, dass uns in diesen Tagen ein Ionensturm von der Sonne trifft. Mein Wecker klingelt also um 23 Uhr. Ich ziehe alle Schichten an, die ich habe. Rumstehen bei minus 30 Grad wird sonst schnell ungemütlich. Ich stapfe durch den Schnee ein Stück weg von unserer Unterkunft. Von hier habe ich einen phänomenalen Blick über das weite, ebene Land. Und darüber führt die Aurora Borealis ihren spektakulären Tanz auf. Jedes Mal, wenn ich das sehe, macht mich das aufs Neue sprachlos. Ich glaube nicht, dass ich mich jemals daran satt sehen werde. Diese Bewegungen und Farben fesseln mich. Ich stehe einfach nur da und staune. Mir schießt die Stelle aus den Psalmen durch den Kopf, wo es heißt: Der HERR ist hoch über alle Völker; seine Herrlichkeit reicht, so weit der Himmel ist. *

Herrlichkeit, so weit der Himmel ist. Damit konnte ich früher nicht so richtig was anfangen. Aber immer wenn ich das Nordlicht anschaue, kann ich es mir zumindest ein bisschen besser vorstellen. Dieses Gefühl, ehrfurchtsvoll in den Himmel zu blicken und den Mund vor Staunen nicht mehr zu zu kriegen! Einfach überwältigend! ... Schon wieder überwältigt von der Natur! Diesmal auf die angenehme Art. Was für ein Glück, genau bei Neumond, klarem Himmel und einem heftigen Ionensturm so ewig weit weg von jeglicher Lichtverschmutzung festzustecken!

Ich mag es im Norden, weil hier so deutlich wird, dass wir nicht über alles die Kontrolle haben. Manchmal macht mich das hilflos und ich stecke im wahrsten Sinne des Wortes fest. Aber nicht die Kontrolle zu haben, ermöglicht mir auch etwas, das mir bei Dingen, die ich voll im Griff habe, sehr viel schwerer fällt: ehrfurchtsvolles Staunen. Und das fühlt sich ziemlich genial an. Manchmal warten die richtig guten Sachen auch da, wo nicht alles nach Plan läuft. Ja, ich stecke ungeplant hier fest. Aber irgendwie hoffe ich, dass die zumindest noch eine weitere Nacht brauchen, um den Dempster Highway zu räumen. 

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 * Damals wusste ich nicht, dass es Psalm 113 ist, das habe ich erst jetzt nachgeschlagen.