Acht Brillen

Die Schöpfung

1 Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. 2 Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. 3 Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.*

 

Was für ein großartiges Stück Literatur! Ich glaube, ich kenne diese Geschichte schon, so lange ich denken kann. Zumindest kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich den Schöpfungsbericht aus Genesis 1 nicht kannte. Irgendwie ist er mit mir mitgewachsen. Ich weiß noch, wie ich als kleines Kind die Geschichte wortwörtlich geglaubt habe. Good old times! Damals war das so einfach.

Heute weiß ich, dass diese Geschichte nicht den Zweck hat, naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln. Wenn ich sie verstehen will, darf ich sie nicht als Tatsachenbericht lesen. Und obwohl mir das eigentlich klar ist, leihe ich mir die Bilder, die beim Lesen der Geschichte vor meinem inneren Auge ablaufen, eindeutig aus dem naturwissenschaftlichen Repertoire. Das liegt vermutlich daran, dass ich mir oft wissenschaftliche Dokumentationen über die Entstehung des Universums anschaue. Diese umwerfenden und faszinierenden Bilder, die ich dort in beeindruckender Qualität zu sehen bekomme, sind in meinem Bewusstsein sehr präsent.

Wenn ich die Bibel aufschlage und lese „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ spielen sich genau diese Bilder in meinem Kopf ab, ohne dass ich da etwas gegen machen kann. BÄÄÄM. Aus dem Nichts entsteht auf einmal etwas.

Ich stelle mir das natürlich immer völlig falsch vor, weil ich mir einen „Raum“ vorstelle, der ganz leer ist und in dem dann der Urknall „passiert“. Dabei gab es den Raum, in dem der hätte passieren können, ja noch gar nicht: Raum, Zeit, Licht, Materie und Gravitation sind der Theorie zufolge mit diesem jungen Universum erst entstanden. Atome bilden sich, Wasserstoffwolken entstehen, Galaxien beginnen zu rotieren und Sterne werden geboren. In den Sternen entstehen schwerere Elemente und wenn sie sterben, schleudern sie diese mit unglaublicher Energie ins Weltall. ... Und ein paar Milliarden Jahre später hat sich dieser wüste und leere Gesteinsplanet gebildet, der um die Sonne kreist.

Diese zehn Milliarden Jahre in Bildern passieren automatisch in meinem Kopf, während ich „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe“ lese. Bilder, die da überhaupt nicht hingehören, weil sie dem Text einen naturwissenschaftlichen Rahmen überstülpen, der der Bibel gar nicht gerecht wird.

Deshalb habe ich die Geschichte für mich neu geordnet. Gespräche mit Menschen, die Hebräisch lesen können, waren dabei ungemein hilfreich. Die haben mir zum Beispiel verraten, dass sich im Hebräischen anhand von Konjugation und Satzbau klarer als im Deutschen unterscheiden lässt, ob eine tatsächliche Handlung oder ihr Hintergrund beschrieben wird. Also zum Beispiel Voraussetzungen und Rahmenbedingungen.

Und genau die ersten beiden Verse, bei denen sich vor meinem inneren Auge so viele Bilder abspielen und die meinen Fokus in eine „falsche“ Richtung lenken, gehören im hebräischen „Urtext“ in den Hintergrund. Sie sind noch gar nicht Teil der eigentlichen Handlung, sondern beschreiben einleitend die Voraussetzungen für eine Erzählung, die erst in Vers 3 richtig beginnt! Ich stelle mir das wie eine Art Regieanweisung vor. Wenn ich die Geschichte heute aufschreiben würde, würde ich diese einleitenden Sätze kursiv setzen.

Vers 1 gehört darüber hinaus nicht nur zum Hintergrund, sondern kann zudem auch noch prospektiv, also wie eine Überschrift oder Zusammenfassung für die gesamte spätere Handlung, gelesen werden. So richtig sinnvoll wird das, wenn man weiß, dass die Überschrift „Die Schöpfung“, die in der Lutherbibel so schön obendrüber steht, im Originaltext gar nicht enthalten ist.

Vor meinem inneren Auge sieht der Text jetzt so aus:

 

AM ANFANG SCHUF GOTT HIMMEL UND ERDE

(Die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser.)

Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. ...

 

Die Handlung, um die es wirklich geht, beginnt erst mit Vers 3, mit „Gott sprach“. Manchmal fange ich auch erst da an zu lesen. Das hilft mir, nicht durch Bilder von der Entstehung des Universums abgelenkt zu werden. Ich kann mich stattdessen darauf konzentrieren, wie Gott durch seine ordnenden Worte aus dem, was an Chaos vorhanden ist, bedeutungsvolle, geordnete und gute Schöpfung gestaltet.

Wo das Universum und die Erde herkommen, darum geht es hier nicht. Dass die Erde existiert, wird einfach vorausgesetzt – bzw. es ist für den Text egal. Antworten zum Ursprung des Universums hätten sich den Menschen damals vermutlich nur schwer erschlossen. Für solche Fragen gab es keine Anknüpfungspunkte in ihrem Alltag. Die meisten haben bestimmt nicht mal hinterfragt, ob die Erde eine Scheibe ist ...

Etwas Anderes kannten sie dafür umso besser: Lebensfeindliche und dunkle Orte, die „wüst und leer“ sind, und von denen man sich besser fernhält. Und dann kommt jemand, der einen solchen Ort nach und nach in einen Raum verwandelt, in dem es sich leben lässt. Nicht durch mühsames Kultivieren mit Axt, Pflug oder sonst was, sondern indem er Licht in die Dunkelheit spricht. Gott spricht und es wird Licht!

Genau das ist der Anfang der eigentlichen Handlung, mit der die Bibel beginnt! Stück für Stück wird das Chaos geordnet. Zunächst wird Licht ins Dunkel gebracht. Das ist der erste Schritt hin zu einem Lebensraum, in dem Gott den Menschen begegnen wird!

Ein bisschen fühlt es sich an, als hätte jemand das, worum es in dem ganzen Buch gehen wird, direkt an den Anfang gestellt. Nur für den Fall, dass man nicht die Zeit hat, alles zu lesen.

Jedes Mal, wenn ich jetzt in der Bibel das Wort „Licht“ lese – sei es z.B. Jesus als Licht der Welt oder die Aussage, dass wir Salz und Licht sind – erinnert mich das daran, dass Licht das erste war, das Gott in die Dunkelheit sprach: Der erste Schritt auf dem Weg zum Ort, in dem Gott Menschen begegnet. Die Worte aus Genesis 1 geben Licht eine unglaublich verheißungsvolle Bedeutung!

„Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht!“. Irgendwie beruhigend.

 

*Nach Luther 2017; © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart