Acht Brillen

Wieso sterben Menschen immer noch an schlimmen Krankheiten? So lange ich denken kann, höre ich von bahnbrechenden medizinischen Durchbrüchen. Trotzdem gibt es für viele Krankheiten noch kein Heilmittel. Waren die ganzen Durchbrüche etwa nicht so toll wie zunächst gedacht? Die Realität ist doch: Was man im Labor unter kontrollierten Bedingungen im Kleinen schafft, klappt meistens nicht ohne Weiteres im Großen, im realen Leben. Bis zur Serienreife und praktischen Anwendung ist es oft noch ein langer Weg. 

Und trotzdem: Mich begeistern wissenschaftliche Durchbrüche immer wieder aufs Neue! Auch wenn sie oft nur im Labor stattfinden. Denn sie stiften Hoffnung. Nicht unspezifische vage Hoffnung, sondern begründete Hoffnung. Sobald gezeigt wird, dass etwas grundsätzlich möglich ist, macht das Mut, dranzubleiben! Man jagt nicht irgendeinem Hirngespinst nach. Was man anstrebt, ist real! Zu wissen, dass etwas machbar ist, ist ein guter Ansporn, nicht aufzugeben und Möglichkeiten zu suchen, wie es seinen Weg ins reale Leben finden kann. 

Manchmal wünschte ich, beim Reich Gottes gäbe es auch mehr von solchen Durchbrüchen. Wenn ich meine Nachrichten-App öffne oder die Zeitung aufschlage, frage ich mich hin und wieder, ob unsere Hoffnung überhaupt noch berechtigt ist. Das mag jetzt sehr unfromm klingen, aber die Realität fühlt sich manchmal an, als hätte Gott uns aufgegeben. Erlebnisse, die mir zeigen, dass noch Hoffnung da ist, und die meinen Glauben daran neu entfachen, finde ich sehr wertvoll.

Jedes Jahr im Sommer arbeite ich eine Woche auf einem Biblecamp in Kanada mit. Das Camp ist im wahrsten Sinne des Wortes auf einer einsamen Insel, auf Anvil Island. Einmal in der Woche kommen neue Vorräte mit dem Boot, unser Wasser wird aus einem kleinen Bach aufbereitet. Und wenn abends der Generator ausgeschaltet wird, ist es zappenduster.

Die Jugendlichen, die auf das Camp kommen, sind eine bunte Mischung aus klassischen Gemeindekindern und Jugendlichen, die aus sogenannten „prekären“ Verhältnissen kommen, manchmal auch schlimmer. Konflikte mit und unter den Teilnehmenden sind da natürlich keine Seltenheit.

Aber auch unter den Mitarbeitenden nicht. Natürlich gehen Sachen schief, und wenn man permanent übermüdet ist, weil man sich die Nächte mit Proben und Vorbereitungen um die Ohren schlägt, braucht es nicht viel, um einen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu bringen. Viele Mitarbeitende kennen sich schon lange; Beziehungen haben sich entwickelt und manche sind auch wieder zerbrochen. Wenn so viele Menschen auf einem Haufen zusammenarbeiten ist klar, dass nicht jeder mit jedem gleich gut kann. Nicht mal auf dem frommsten Camp.

Aber eines merke ich jedes Jahr: Die Art und Weise, wie wir mit Schwierigkeiten und Konflikten umgehen, ist anders, als ich es gewohnt bin. Wo jemand völlig die Nerven verliert, sind sofort Leute zur Stelle, um zu trösten. Und anstatt diese Menschen zurückzuweisen, lässt man es geschehen. Wo man sich dämlich verhalten hat und die andern eigentlich jedes Recht hätten, sauer zu sein, kommen sie auf einen zu und fragen, was los ist und was hinter dem Verhalten steckt. Kurz gesagt: Alle lassen sich eine Woche lang darauf ein, nicht sich selbst zuerst zu sehen, sondern den anderen. Und man vertraut darauf, dass die anderen dasselbe tun. Und es funktioniert. Schon seit 1939. Die Geschichten, wie Menschen auf Anvil Island Perspektiven aus der Hoffnungslosigkeit gefunden haben, sind zahllos. Für ganze Generationen ist die kleine Insel ein Ort, an dem Gott ganz real erlebbar ist. (Auf der Insel gibt es auch einen Berg, vielleicht liegt es ja daran ...)

Und für mich ist es ein Durchbruch. Zwar nur unter ganz kontrollierten „laborartigen“ Bedingungen, abgeschieden und weit weg von Festland und Alltagssorgen, aber trotzdem: Für eine Woche im Jahr erlebe ich, dass das Miteinander unter Menschen, wie Gott es sich ursprünglich mal gedacht hatte, keine fromme Illusion ist. Es ist möglich. Vielleicht dauert es noch ein paar Jahrzehnte, bis das, was ich in dieser einen Woche erlebe, es zur Serienreife in den Alltag schafft. Bestimmt kennt ihr auch solche Erlebnisse. Menschen, Momente und Begebenheiten, die uns zeigen, dass das Reich Gottes keine theoretische Größe ist, sondern real gelebt werden kann. Und die uns Hoffnung geben für die Zeiten, in denen sich das nicht so anfühlt. 

Dein Reich komme, dein Wille geschehe. Wie im Himmel, so auch auf Erden.

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