Wiederholungen langweilen mich eher – es sei denn es ist gute Musik, das „Atztekenschwert“ von den Drei Fragezeichen, ein Marvelfilm oder aber die Geschichte meines Vaters.
Er ist 1930 geboren und in Polen aufgewachsen. Als kleiner Junge habe ich deswegen wiederholt scherzhaft gesagt: „Ich bin ein Flüchtlingskind!“ Aber es ist kein Scherz, es ist wahr. Mein Vater musste am Ende des zweiten Weltkriegs fliehen und die Suche nach Heimat wurde für ihn zu einer jahrelangen Wiederholungsschleife – zusammenpacken, aufbrechen, niederlassen, durchatmen, zusammenpacken, aufbrechen, …!
Richtig eingetaucht bin ich in seine Geschichte erst am Ende meines Theologiestudiums, als er mich fragte, ob ich Interesse hätte sein Geburtshaus zu sehen. Zusammen sind wir dann im August 2005 nach Polen gefahren.
In Plock haben wir an der Weichsel Halt gemacht und mein Vater wiederholt die Geschichte, die er schon auf der Fahrt dorthin ein, zwei Mal angerissen hat. Aber jetzt zeigt er mir die Stelle, über die sie 1942 mit Kutschen gefahren sind, mitten im Winter, über einen zugefrorenen Fluss. Ich merke wie ich wiederholt versuche, mich in diese Situation der Flucht und Angst vor den näher rückenden russischen Soldaten hineinzuversetzen. Aber es gelingt mir nicht. Ich bin jetzt ganz nah dran und doch sind der Krieg und seine Schrecken für mich weit weg. Das fühlt sich komisch an.
Nach etwas mehr als 400 km sind wir dann da. In Biele. Für jemanden, der in der Nähe von Bielefeld groß geworden ist, wirkt das Straßenschild irgendwie verkürzt. Und so kurz der Ortsname ist, so klein ist auch das Örtchen. Es besteht aus einer Straße. Sie wirkt trostlos auf mich. Aber mein Vater dreht jetzt voll auf, und erzählt mir lebendig und eindrucksvoll wie sie in den angrenzenden Feldern und dem Waldstück gespielt haben. Wie er die Pferde von der Koppel in den Stall geritten hat. Und wie sie selbstverständlich nicht zur Schule gehen durften, wenn die Kartoffeln geerntet werden mussten. Voller Abenteuer steckt diese Kindheit und dann, ganz plötzlich, ist er sich nicht sicher, in welchem Haus er geboren wurde und aufgewachsen ist. Erst scheint es traurig vergebens gewesen zu sein, dass wir hergekommen sind. Aber dann, strahlt es aus dem Gesicht meines Vaters: „Nicht so wichtig!“.
Obwohl er seit Ewigkeiten kein polnisch mehr geredet hat, holt mein Vater es wieder aus den tiefen seiner Gehirnwindungen und quatscht ein paar Leute, die in ihren Gärten stehen, an. Für mich klingt das polnisch. Und dann wird es mir bewusst: Dieser Ort und mein Vater gehören auf eine geheimnisvolle Art zusammen! Er hat hier wirklich mal gelebt. Hier ist er zwölf jahrelang groß geworden. Als ob ihn seine Geschichte wieder eingeholt hätte. Am Ende haben wir nur vermutet, in welchem Haus er geboren wurde.
Es sind schon wieder so viele Jahre vergangen. Aber seitdem machen wir immer einen langen Sparziergang, wenn ich ihn besuche. Und dann löchere ich ihn und lasse mir seine Geschichte wiederholen. Ich weiß mittlerweile ziemlich viel über sein Leben bevor es mich gab. Und ich verstehe auf einmal sein großes, gutmütiges Herz und seine kleinen Macken.
Wiederholung! Es hat mich im Studium fasziniert, dass davon auch die Israeliten über Generationen hinweg gelebt haben. Bevor sie alles niederschreiben konnten, haben sie sich die Geschichte Gottes immer wiederholt. So haben sie Geschichte lebendig gehalten, sich an das große Herz Gottes erinnert und an ihre aus Sehnsucht nach Heimat geborenen Fehler. Ich stelle mir vor wie das Lagerfeuer knisterte und die Kinder ihre Eltern fragten: „Kannst du noch einmal die Geschichte erzählen, als ihr um das goldene Kalb getanzt seid?“
In einer Welt, die Erinnerungen immer unwichtiger erscheinen lässt, und in der wir uns ständig neu erfinden müssen, sehne ich mich nach so einer Feuerstelle, um in alten Geschichten zu schwelgen und mit meiner Familie darüber zu schmunzeln und zu lachen. Mein Herz will sich erinnern. Denn Geschichten müssen wir wiederholen, damit sie uns die Menschen aufschließen, mit denen wir zusammenleben. Ich will lernen mich zu wiederholen, damit ich meinen Kindern etwas weitergebe von meiner Geschichte, die für sie hoffentlich eine Bedeutung hat.