Acht Brillen

Auch wenn ich von Henrik früher schon mal gehört hatte, so richtig kennengelernt haben wir uns erst im Sommer 2018. Das war bei den Bad Hersfelder Festspielen. Dort habe ich Henriks dramatisches Gedicht Peer Gynt gesehen, in einer modernen Inszenierung, die das 150 Jahre alte Stück für die heutige Zeit neu interpretiert hat. Leider ohne die schöne Bühnenmusik von Edvard Grieg, die ich so liebe, aber trotzdem sehr gut.

Mich hat berührt, wie der notorische Lügner und Angeber Peer Gynt am Ende seines bewegten, abenteuerlichen und doch irgendwie auch vertanen Lebens feststellt, dass er ein Mensch wie eine Zwiebel ist: nur Schale um Schale – kein innerer Kern. Dieses nüchterne Fazit ziehend, begegnet er Solveig wieder, der großen Liebe seiner Jugend. Sie hat ein Leben lang auf ihn gewartet und wird nun von ihm gefragt:

 

Wo war ich, als ich selbst, als der ganze, der wahre Kern?

Wo war ich, mit Gottes Zeichen auf meiner Stirn?

 

Und Solveig antwortet ihm:

In meinem Glauben, in meiner Hoffnung und in meiner Liebe.

Natürlich habe ich bei diesen Worten sofort an Paulus gedacht und sein „Hohelied der Liebe“ (1 Kor 13):

 

Was für immer bleibt, sind Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei.

Aber am größten von ihnen ist die Liebe. (1 Kor 13,13)

Das nämlich ist der ganze, wahre Kern meines Lebens, Gottes Zeichen auf meiner Stirn: in SEINEM Glauben an mich, in SEINER Hoffnung für mich, in SEINER Liebe zu mir zu sein – und natürlich auch in Glaube, Hoffnung und Liebe mir nahestehender Menschen.

In den Wochen und Monaten nach Peer Gynt habe ich meine alte, oberflächliche Bekanntschaft mit Henrik erneuert. Und irgendwie sind wir Freunde geworden. Ein lädiertes Knie, das mir einige Wochen unverhoffter Ruhe bescherte, hat geholfen dabei. Eine Gesamtausgabe seiner wichtigsten Dramen, die ich zum Geburtstag geschenkt bekam, auch.

Ich bin sicher, Henrik würde sich über weitere Freunde und Freundinnen freuen. Vielleicht lest ihr das Folgende als seine „Freundschaftsanfrage“ an euch? Es könnte sich lohnen!

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Wer war Henrik Ibsen?
Darüber informiert sehr schön und kurzweilig ein kleines Radiofeature von Christiane Kopka zu Ibsens 110. Todestag am 23. Mai 2016.

Geboren wird Henrik am 20. März 1828 in Skien im Süden Norwegens. Er ist der älteste Sohn einer traditionsreichen, vornehmen Kaufmannsfamilie. Doch schon als Kind muss er den gesellschaftlichen Abstieg seines Vaters Knud Ibsen miterleben, als dieser 1836 bankrott geht. Die Familie verkauft ihr Haus und zieht auf ein Landgut außerhalb der Stadt. Henrik wird introvertiert und depressiv. Sein Vater verfällt dem Alkohol.

Mit 16 Jahren beginnt Ibsen eine Lehre als Apotheker. Später will er Medizin studieren. Doch dann knallt die Literatur in sein Leben – in Gestalt von William Shakespeare und Ludvig Holberg. Henrik verfasst erste eigene Werke, Liebesgedichte für ein Mädchen namens Clara. Mit dem zehn Jahre älteren Dienstmädchen Else Sofie Jensdatter bekommt er als Achtzehnjähriger einen Sohn, Hans Jacob Henriksen, für den er jahrelang Unterhalt zahlt, ohne jemals engeren Kontakt mit ihm zu haben. Irgendwie ein verkorkstes Leben, von Anfang an.

1850 zieht Ibsen nach Kristiana (heute: Oslo). Er schreibt sich für ein Medizinstudium ein, studiert aber in Wahrheit schon damals vor allem Literatur. Ein erstes Theaterstück entsteht, das allerdings erst 31 Jahre später zum ersten Mal aufgeführt wird. 1851 wird Henrik Dramaturg am norwegischen Nationaltheater in Bergen. 1857 übernimmt er die künstlerische Leitung des Norwegischen Theaters in Kristiana. Ein Jahr später heiratet er Suzannah Thoresen, eine Pfarrerstochter aus Bergen. Wiederum ein Jahr später wird ihr Sohn Sigurd geboren.

Als das Norwegische Theater 1862 pleite geht, hält Ibsen sich irgendwie über Wasser, bis sein Freund und Mäzen Björnstjerne Björnson ihm schließlich ein Dichterstipendium für eine Studienreise ins Ausland verschafft. Von 1864 bis 1891 – fast drei Jahrzehnte! – lebt Henrik anschließend im selbstgewählten Exil in Deutschland und Italien. Hier entstehen seine großen, meist erfolgreichen Dramen: Brand, Peer Gynt, Stützen der Gesellschaft, Ein Puppenheim (Nora), Gespenster, Ein Volksfeind, Die Wildente, Rosmersholm, Die Frau vom Meer, Hedda Gabler.

Die letzten 15 Jahre seines Lebens verbringt Ibsen dann wieder in Kristiana. Inzwischen ist er ein berühmter und gefeierter Dichter. 1899 entsteht sein letztes Theaterstück: Wenn wir Toten erwachen. Ein dramatischer Epilog in drei Akten. Ein Jahr später erleidet Henrik einen ersten Schlaganfall und kann nicht mehr arbeiten. Als er am 23. Mai 1906 im Alter von 78 Jahren stirbt, ehrt ganz Norwegen ihn mit einem Staatsbegräbnis. Bis heute ist er – neben William Shakespeare – der meistgespielte Bühnenautor überhaupt.

 

Ibsen, Ibsen überall!

Ibsen, Ibsen überall!

Da geht nichts mehr drüber!

Auf dem ganzen Erdenball

Herrscht das Ibsen-Fieber!

Alle Welt wird Ibsen-toll,

Wenn auch wider Willen,

Denn die ganze Luft ist voll

Ibsen-Ruhm-Bacillen!


Keine Rettung! Überall

Künden Ibsens Namen,

Preisend mit Posaunenschall,

Moden und Reklamen,

Auf Cigarren, Damenschmuck,

Torten, Miedern, Schlipsen,

Prangt das Wort in gold’nem Druck:

Ibsen! À la Ibsen!

 

Dieses Gedicht erscheint 1891 in einer Berliner Zeitung. Es spiegelt auf satirische Weise die revolutionäre Bedeutung wider, die Ibsens Stücke gegen Ende des 19. Jahrhunderts für das Theater haben. Er ist der Erste, der auf der Bühne ganz alltägliche Charaktere auftreten lässt. Er, der seine Karriere als Schriftsteller mit Versdramen in der Tradition der norwegischen Nationalromantik begann (Catilina, Das Hünengrab, Die Johannisnacht, Das Fest auf Solhaug), setzt sich nun mit der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit auseinander. „Wie ein Feinmechaniker“ schaut er „in die Abgründe hinter den Stuckfassaden der Gründerzeitgesellschaft“ (Christiane Kopka).

Dabei haben fast alle seine Figuren bittere Geheimnisse. Oft bauen sie ihre Existenz auf Lebenslügen auf. Und allgegenwärtig ist bei ihnen die Angst vor dem sozialen Abstieg. Die kennt Henrik aus seinem eigenen Leben. Vielleicht macht das seine Stücke so aktuell. In ihnen geht es um Machtmissbrauch und Doppelmoral, um Spekulation und Profitgier, um das Verhältnis der Geschlechter zueinander und die Gleichstellung von Mann und Frau, um geschundene Kinder.

Yvonne Gebauer, Dramaturgin an der Bayerischen Staatsoper, fasst das damals Neue an Henriks Dramen so zusammen: „Er brachte das Verdrängte zum Vorschein, die Kreuzungs- und Knotenpunkte irregewordener Lebens- und Familiengeschichten ... Die Geschichten, die Ibsen uns erzählt, erscheinen ohne Ausweg, und wer ihn liest oder ihm im Theater lauscht, ist atemlos von so viel Eingefangensein, von nicht zu Verhinderndem in einem alles überwältigenden, beherrschenden Zeitmaß. Die Erwachsenen wanken wie Gespenster durch ihre abgelebten Leben und auch die Kinder haben hier keine Zukunft.“

Eine leichte, eine lustige Lektüre sind Henriks Dramen also nicht. Aber eine lohnende. In einem Gedicht aus dem Jahre 1871 schreibt er:

 

Leben heißt – dunkler Gewalten

Spuk bekämpfen in sich.

Dichten – Gerichtstag halten

über sein eigenes Ich.

 

Und im vorletzten Akt seines letzten Dramas sagt eine seiner Figuren:

Das Unwiederbringliche sehen wir erst ...

Wenn wir Toten erwachen ...

Wir sehen, dass wir nie gelebt haben.

Vielleicht war das die größte Angst Henriks: am Ende seines Lebens festzustellen, nie wirklich gelebt zu haben. Vielleicht ist das eine Angst, die jede*r kennt? Henriks Figuren jedenfalls sind voller Brüche und Widersprüche – wie er selbst! Der Revolutionär der Theaterwelt und Vater des modernen Dramas ist privat nämlich ein Spießer, wie er im Buche steht, „ein aufgeblasener Wicht mit albernem Backenbart, der fast nie lacht und selbst zuhause mit Orden herumstolziert“ (Christiane Kopka).

Ob Henrik und ich deshalb so gute Freunde geworden sind? Ich bin ja irgendwie auch ein Spießer! Trautes Heim, Glück allein. Sicherheit und Geborgenheit. Möglichst kein Risiko eingehen. Das ist mir wichtig und gibt mir Halt. Und gleichzeitig möchte ich etwas bewegen, die Welt zu einem besseren Ort machen. Auch und gerade für die, die in ihrem Leben nicht so gute Start- und Rahmenbedingungen vorgefunden haben wie ich. Diesen Wunsch teile ich mit meinem Freund Henrik.

Er schreibt aus diesem Grund gesellschaftskritische Dramen, die auch heute noch berühren und nachdenklich machen. Mein Beitrag ist viel bescheidener. Artikel hier und da, Predigten hin und wieder, persönliche Begegnungen und Gespräche, ehrenamtliches Engagement. Ihm ging es um ein „adliges Element“ in der Gesellschaft, wobei er „nicht an den Adel der Geburt und auch nicht an den Geldadel, nicht an den Adel der Wissenschaft und nicht einmal an den Adel des Genies oder der Begabung“ dachte, sondern „an den Adel des Charakters, an den Adel des Willens und der Gesinnung.“ (zitiert bei Rieger 105). Mir geht es um die revolutionär gute Nachricht Jesu von der Umwertung aller Werte:

 

Die Ersten werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein. (Mt 19,30)

 

Diese gute Nachricht stellt Tag für Tag mich selbst und mein Spießersein in Frage.

Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.

Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden.

Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen.

(Lukas 6,20-21)

 

Was sagen solche Worte einem, der selbst keineswegs arm ist, bislang nie hungern musste und nur selten wirklich Grund zum Weinen hat? Mein Freund Henrik stellt sich in seinen Dramen an die Seite gebrochener und gescheiterter Existenzen. Wo stehe ich? An der Seite der Mühseligen und Beladenen (Mt 11,28)? Ich hoffe doch! Jedenfalls ist das etwas, zu dem mich nicht nur Jesus, sondern auch mein Freund Henrik inspiriert.

 

 

Literatur

Henrik Ibsen, Dramen in einem Band. Übersetzt und herausgegeben von Heiner Gimmler. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2006.

Christiane Kopka, Henrik Ibsen, norwegischer Dramatiker (WDR-Sendung „Stichtag“ zum 110. Todestag Ibsens am 23.5.2016):
https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-todestag-henrik-ibsen-100.html
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr2/wdr2-stichtag/audio-henrik-ibsen-norwegischer-dramatiker-todestag--100.html

Gerd Enno Rieger, Henrik Ibsen mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1981, 8. Aufl. 2008.